Lawrence Abu Hamdan, Rubber Coated Steel, 2016
A.S.I. group (Ehsan Fardjadniya), Hinterland, nach „Stage for Tragedy“, 2017
Sven Augustijnen, Summer Thoughts, 2012-fortlaufend
Ella de Búrca, Roof Without Walls (Defiance), 2017
Anna Dasovic, And He Knew That Someone Who Had Witnessed These Things Might Be Too Stunned to Speak, 2016
Köken Ergun, The Flag, 2006
Johan Grimonprez, Blue Orchids, 2016
Alevtina Kakhidze, One Man's Meat Is Another Man's Poison, 2017
Yazan Khalili, The Day We Saw Nothing In Front of Us, 2015
Lyubov Matyunina, Post Fairy Tale, 2016
Adrian Melis, Moments That Shaped The World I-IV, 2012 – 2015
Pinar Ögrenci, Erika And The Night, 2016
Dorian de Rijk, Winging It, 2016
belit sag, Ayhan and me / Ayhan ve ben, 2016
belit sag, If You Say It Forty Times..., 2017
Anika Schwarzlose, Agendas And Containers, 2016
Radek Szlaga, What We Think that They Think that We Think..., 2012
Aleksei Taruts, High-Energy Objects, 2015–2017
Anastasiya Yarovenko, For Humans By Humans, 2015–2016

POST PEACE

WERKE IN DER AUSSTELLUNG
Courtesy, wenn nicht anders vermerkt: Der Künstler
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Lawrence Abu Hamdan
*1985 in Amman, lebt in Beirut
Rubber Coated Steel (Mit Gummi beschichteter Stahl), 2016
HD-Video, 21’

Im Mai 2014 erschossen israelische Soldaten im besetzten Westjordanland (Palästina) die beiden Jugendlichen Nadeem Nawara und Mohamad Abu Daher. Die Menschenrechtsorganisation Defence for Children International nahm daraufhin Kontakt zur Agentur Forensic Architecture an der Goldsmiths Universität in London auf, die diesen Vorfall dann in Zusammenarbeit mit Abu Hamdan untersuchte. Die Untersuchungen beruhten auf einer audio-ballistischen Analyse der aufgezeichneten Schüsse, mit der festgestellt werden sollte, ob die Soldaten – wie sie behaupteten – Gummigeschosse benutzt hatten oder gegen das Gesetz handelten, indem sie echte Munition auf die unbewaffneten Jugendlichen abfeuerten. Etwas mehr als ein Jahr später, nachdem Abu Hamdan seinen Bericht beendet hatte, nahm er den Fall in seiner Videoarbeit Rubber Coated Steel wieder auf. Im Zusammenspiel zwischen der Ästhetik audio-ballistischer Aufzeichnungen und den Apparaturen einer Schießanlage inszeniert er eine Art Gerichtsverhandlung, deren Gegenstand der Sound des Tötens ist.

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A.S.I. group (Ehsan Fardjadniya)
E. F.: *1980 in KermAnschAh, lebt in Amsterdam
Hinterland, nach „Stage for Tragedy“, 2017
(Interpretation von Alexandra Exters Modell einer konstruktivistischen Tragödienbühne von 1924), Umgearbeitete Europaletten

Das Kollektiv Anonymous Stateless Immigrants (A.S.I. group) lädt die Besucher_innen dazu ein, eine eigens für die Ausstellung aus Europaletten gebaute Bühne in Gebrauch zu nehmen: im Sinne eines Gegenentwurfs zum Konzept der geschlossenen Grenzen und Nationen. Die Europaletten – Sinnbilder einer freien Zirkulation, die für Waren, aber nicht für alle Menschen gilt – wurden für diesen Zweck zu Modulen umgearbeitet, die nicht zufällig an Transportkisten von Schusswaffen erinnern. Die Form der Bühne verweist überdies auf ein Modell der russischen Konstruktivistin Alexandra Exter aus den 1920er-Jahren, das den Titel Stage for Tragegy, Bühne für Tragödien, trägt.
Die Bühne der A.S.I. group – beziehungsweise Ehsan Fardjadniyas – versteht sich als Plattform der freien Artikulation, als offener Aufführungsort und Probebühne. Zur Ausstellungseröffnung findet hier die Live-Performance I must Seek Refuge again statt. 

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Sven Augustijnen
*1970 in Mechelen, lebt in Brüssel
Summer Thoughts (Sommergedanken), 2012-fortlaufend
Installation, Maße variierend
Courtesy: Der Künstler und Jan Mot

Summer Thoughts ist ein langfristiges Forschungsprojekt, das mit der Einladung, für das A Prior Magazin auf die dOCUMENTA 13 (2012, Kassel) zu reagieren, begann. Inspiriert von den Tapisserien der norwegischen Künstlerin Hannah Ryggen (1894-1970) antwortete Sven Augustijnen in Form eines Briefes an die Kuratorin Marta Kuzma.
Eine Reihe von zwischen 2012 und heute geschriebenen Briefen sowie Zeitungen, Fotografien, Bücher und anderes Archivmaterial bringen verschiedene Zeiten, Persönlichkeiten und Topografien zusammen. Sie bilden ein sich überlagerndes Netzwerk aus Referenzen, Assoziationen, persönlichen Erfahrungen, kulturellen sowie politischen Ereignissen, die während des Schreibens stattfanden.
Summer Thoughts hinterfragt die gegenwärtige Krise in Europa nicht nur als eine ökonomische oder politische, sondern auch als eine moralische und kulturelle Herausforderung, die von einem pervertierten Verständnis der Demokratie, Freiheit und persönlichen Zuständigkeit geprägt ist – und worauf nicht zuletzt das Wiederaufleben rechtsextremer Bewegungen basiert.
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Ella de Búrca
*1986 in Dublin, lebt in Brüssel
Roof Without Walls (Defiance) [Dach ohne Mauer (Ungehorsam)], 2017
Aus Dachziegeln in Beton gegossene Bodenfliesen, Maße variierend

Selbst wenn wir im Zeitalter des Post-Peace angekommen sind, so ist die davorliegende Vergangenheit dennoch gegenwärtig – dies scheint uns die Künstlerin Ella de Búrca über eine simple Dachziegel mit der Aufschrift Defiance (Ungehorsam) mitteilen zu wollen.
Während des Wirtschaftskriegs zwischen Irland und Großbritannien, der 1938 unmittelbar auf Irlands Befreiung von der 800-jährigen britischen Besatzung folgte, wurden die Begriffe Defiance (Ungehorsam) und Saorstat Eireann (Freistaat Irland) auf alle irischen Produkte gedruckt. Irland hatte sich geweigert, Schulden an Großbritannien zurückzuzahlen – wovon dieses jedoch die Abspaltung Irlands abhängig machen wollte. Die Briten reagierten auf die Weigerung mit immensen Einfuhrzöllen und schwächten die noch junge irische Wirtschaft. Die Arbeiter_innen verstanden die wirtschaftliche Unterdrückung als Fluch gegen die politische Unabhängigkeit. Indem sie alles, was sie produzierten, mit dem Begriff „Ungehorsam“ kennzeichneten, kämpften sie stolz gegen das ihnen auferlegte Leid. Schließlich befreite sich das Land von allen kolonialen Einflüssen und wurde finanziell und ideologisch unabhängig. Heute sieht sich Irland mit seinen Schulden von der EU-Bürokratie erdrückt – und Großbritannien hat mit seinem Nein zur EU den Spieß quasi umgedreht. In ihrer Arbeit überprüft de Búrca das Erbe des politischen Idealismus. Sie nutzt die Dachziegel als Bodenfliesen und platziert sie zu den Füßen der Ausstellungsbesucher_innen, damit sie darauf treten.
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Anna Dasovic
*1982 in Amsterdam, lebt in Amsterdam
And He Knew That Someone Who Had Witnessed These Things Might Be Too Stunned to Speak (Und er wusste, dass jemand, der diese Dinge miterlebt hat, zu fassungslos sein könnte, um darüber zu sprechen), 2016
16 mm Projektion, 3’’ Loop; Video, 17’ 56’’, Loop, gerahmter Brief, 26x31 cm, Abbildung auf Forex, 277x250 cm

Too Stunned to Speak setzt an der Frage an, weshalb Begriffsfloskeln wie das „Unvorstellbare“ oder „Undenkbare“ bemüht werden, sobald Politiker_innen über den Holocaust sprechen. Die Arbeit basiert auf Filmfragmenten aus dem Special Film Project 186: einer 1945 durch die US Luftwaffe in Auftrag gegebenen Produktion, an der überwiegend Regisseure aus Hollywood beteiligt waren. Ziel war es, den ausführlichsten Propaganda-Kriegsfilm aller Zeiten zu produzieren. In erster Linie der Dokumentation der alliierten Bombenangriffe auf Deutschland gewidmet, zeigen einige Filmrollen die grausamen Folgen des Nazi-Terrors im KZ Buchenwald unmittelbar nach seiner Befreiung im April 1945. Zur gleichen Zeit (am 19. April 1945) wurde General Marshall von General Eisenhower schriftlich dazu aufgefordert, so viele Besucher_innen wie möglich „in dieses Theater“ zu bringen. Die Aufnahmen aus dem KZ fokussieren weniger die Bilder der Gräueltaten an diesem Ort, als vielmehr die Bewohner_innen aus der nahe gelegenen Stadt Weimar, die von der US-Armee gezwungen wurden, Buchenwald zu besichtigen. Die Veröffentlichung und Freigabe dieser Dokumente in den 1960er-Jahren markierte einen bedeutenden Moment: den Beginn der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Holocaust im so genannten „Westen“.
Gezeigt wird zudem ein Pressebild der Ausstellung Lest we Forget (Damit wir nicht vergessen, 1945, Library of Congress, Washington DC) auf dem Besucher_innen vor einem Foto aus Buchenwald zu sehen sind. Barack Obama hat sich während seiner Präsidentschaft mehrfach auf diese Dokumente bezogen. 

On “The last Face“ And Other Images (Über “Das letzte Gesicht” und andere Bilder), 2017 – fortlaufend
Fotodruck, Buch, Maße variierend 

Diese nach Bruno Apitz’ Holzskulptur Das letzte Gesicht benannte Sammlung visueller Dokumente geht der Geschichte von „Goethes Eiche“ nach. Im Jahr 1937 baute die SS das Konzentrationslager Buchenwald. Ursprünglich befand sich an diesem Ort ein Wald, der bis auf eine einzige Eiche abgeholzt wurde. Dieser Baum hatte der Legende nach schon Goethe Schatten gespendet und wurde aus diesem Grund zum Zentrum des Konzentrationslagers. Als die amerikanische Luftwaffe im August 1944 die in der direkten Nachbarschaft von Buchenwald gelegene Rüstungsfabrik bombardierte, blieb das Lager unbeschadet. Von diesem Angriff selbst – und von seiner Planung – existieren Luftbildaufnahmen. Der Künstler Harun Farocki hat auf die Beziehungen zwischen den Logiken des Krieges und der Fotografie hingewiesen: Dasselbe Flugzeug, das Bomben abwirft, ist mit einer Kamera ausgestattet: “Die Fähigkeit zu sehen, bedeutet, dass man die Distanz zu einem Gegenstand bewahrt.” Durch die Bomben geriet Goethes Eiche in Flammen und wurde daraufhin von der SS gefällt. Bruno Apitz konnte ein Stück des verbrannten Holzes retten und aus dem Konzentrationslager herausschmuggeln.
In ihrer Zusammenstellung bekommen die ausgestellten Dokumente einen erzählerischen Charakter. Sie zeigen die Interessen der Kriegsführung vom Zweiten Weltkrieg bis heute auf.
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Köken Ergun
*1976 in Istanbul, lebt in Istanbul
The Flag (Die Flagge), 2006
Zwei-Kanal Videoinstallation, 8’ 54’’

The Flag ist der zweite Teil von Köken Erguns Videoserie über die vom türkischen Staat kontrollierten Nationalfeiertage. Er wurde während des „Tag des Kindes“ am 23. April aufgenommen. Der Feiertag soll an die Gründung des türkischen Parlaments und den offiziellen Zusammenbruch des Osmanischen Reichs 1920 erinnern. Das Video dokumentiert eine pompöse patriotische Inszenierung, die von einer älteren Generation erfunden wurde, um von Kindern aufgeführt zu werden. Zum Empfang des Bürgermeisters und Gouverneurs von Istanbul sind hochrangige Generäle geladen und Grundschüler_innen lesen Gedichte und Schwüre vor. So verwandelt sich der Patriotismus in einen konkreten Nationalismus. Ein Mädchen trägt einen der Texte, Die Flagge, leidenschaftlich vor und schwört, „jedes Nest eines Vogels zu zerstören, der nicht im Flug die Flagge seines Landes hisst“, und „das Grab jedes Einzelnen auszuheben, der im Vorbeigehen die Flagge nicht so würdigt, (wie sie es tut).“
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Johan Grimonprez
*1962 in Roeselare, lebt in Brüssel und New York
Blue Orchids (Blaue Orchideen), 2016
HD-Film, 48’

We hang the petty thieves and appoint the great ones to public office.
—Aesop

Der Film Blue Orchids stellt zwei Experten einander gegenüber, die sich in ihren Meinungen über den globalen Waffenhandel nicht extremer unterscheiden könnten. Die Geschichten von Chris Hedges, einem ehemaligen Kriegsberichterstatter der New York Times, und Riccardo Privitera, früherer Waffen- und Ausrüstungshändler des inzwischen aufgelösten Unternehmens Talisman Europe ltd, enthüllen bisher unbekannte und schockierende Informationen über die Kriegsindustrie. Während des Interviews, das Grimonprez anlässlich seines kürzlich erschienenen Films Shadow World mit Privitera und Hedges führte, stellte sich heraus, dass beide Männer dieselbe Empörung zum Ausdruck bringen – allerdings aus völlig gegensätzlicher Perspektive: Der eine hat sein Leben der Aufklärung von Lügen gewidmet, wohingegen der andere seines auf Lügen aufbaute. Indem Grimonprez die privaten und beruflichen Geschichten der beiden fokussiert, offenbaren sich nach und nach die Abgründe des Traumas und der Doppelzüngigkeit. Der Waffenhandel entpuppt sich dabei als Symptom einer schweren Krankheit: der Geldgier.
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Alevtina Kakhidze
*1973 in Zhdanovka, lebt in Muzychi
One Man's Meat Is Another Man's Poison (Das Fleisch eines Mannes ist das Gift eines anderen Mannes), 2017
Von Hand gezeichnete Karte basierend auf Interviews über den 2. Weltkrieg, welche die Künstlerin in St. Petersburg von Januar bis Februar 2017 geführt hat

In dieser eigens für die Ausstellung Post-Peace produzierten Arbeit setzt Alevtina Kakhidze ihre früheren Recherchen fort, in denen sie die aktuelle Geschichte der Maidan-Proteste und des darauf folgenden Kriegs in der Ukraine aus der Perspektive einer Teilnehmerin dieser Ereignisse untersucht. Die Künstlerin selbst war eine aktive Unterstützerin der Maidan-Proteste, während ihre Mutter inmitten des Kampfgebietes lebte. In ihren Zeichnungen und Performances artikuliert Kakhidze ihren Unmut gegenüber der Medienberichterstattung und der Verwirrung durch absurde Mythen, die direkt vor unseren Augen erzeugt werden.
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Yazan Khalili
*1981 in Damaskus, lebt in Ramallah
The Day We Saw Nothing In Front of Us (Der Tag an dem wir nichts vor uns sahen), 2015
Serie aus zerkratzten Fotografien, je 100 x 66 cm
Courtesy: Der Künstler und Lawrie Shabibi Gallery

Die Fotoserie zeigt israelische Siedlungen im besetzen Palästina. Die Siedlungen sind aus den Fotografien herausgekratzt worden, so dass sich dem Betrachter nicht nur die Möglichkeit einer ikonoklastischen Zukunft, sondern auch die Materialität des Bildes selbst offenbart: Gewalt verübt an nur dargestellter Gewalt, deren Spur sich in die ausradierte Gewalt eingeschrieben hat.
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Lyubov Matyunina
*1985 in Kaliningrad, lebt in Amsterdam
Post Fairy Tale (Post Märchen), 2016
HD-Video und Installation, 15’ 55’’

Post Fairy Tale
ist ein experimenteller Dokumentarfilm, der auf E.T.A. Hoffmanns Kunstmärchen Klein Zaches, genannt Zinnober (1819) beruht. Der Film wurde in Königsberg, dem heutigen Kaliningrad und Geburtsort von Immanuel Kant, E.T.A. Hoffmann sowie der Künstlerin selbst, gedreht. 70 Prozent der Stadt wurden während des Zweiten Weltkriegs zerstört und bis heute nicht wieder aufgebaut. Die Bilder, die man im Film von der Stadt zu sehen bekommt, zeigen die „Überreste“ von Königsberg.
Der Film basiert auf drei Handlungssträngen: Der erste Strang folgt der Erzählung des Märchens; der zweite versucht mit seinen passiven Beobachtungen die Realität auf poetische Weise zu fassen; der dritte repräsentiert die virtuelle Realität und konzentriert sich dabei auf das soziale Netzwerk Facebook: eine Struktur, die für Matyunina das Terrain moderner, in Form von Typografie und Tönen erscheinender Zaubersprüche und Märchen abbildet.
In einer Zeit, in der ein Begriff wie “postfaktisch” vom Verlag Oxford Dictionaries zum Wort des Jahres 2016 gewählt wird, lehrt uns die Moral von Hoffmanns Geschichte, dass wir dem bloß Scheinhaften auf den Grund gehen sollten. Zugleich befragt Matyunina die Funktion der Selbstdarstellung in den sozialen Netzwerken, in denen es so einfach ist, Fiktion zur Wirklichkeit zu machen.
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Adrian Melis
*1985 in Havanna, lebt in Athen
Moments That Shaped The World I-IV (Momente die die Welt prägten I-IV), 2012 – 2015
Videoskizzen in 4 Kapiteln,  2’ 45’’, 4’ 49’’, 3’ 36’’, 5’ 54’’
Courtesy: Der Künstler und ADN Galería

Die vierteilige Videoserie reflektiert bedeutsame historische Ereignisse aus unterschiedlichen, zeitlich wie ideologisch verschobenen beziehungsweise sich widerstreitenden Perspektiven. In Teil 1 beispielsweise werden Tonmitschnitte vom Berliner „Mauerfall“ 1989 mit aktuellen Aufnahmen einer Straße in Havanna montiert – in Anspielung auf die Brüche, Kontinuitäten und Ungleichzeitigkeiten politischer Systeme.
Teil 2 stellt Bilder eines bekannten kommerziellen Musikfestivals in Barcelona Tonaufnahmen der Demonstrationen der 15M-Bewegungen entgegen, die für die jüngsten soziopolitischen Aufstände in Spanien stehen. Dabei geht es auch um eine Kritik am Zurückfallen politischer Protestkulturen auf Strukturen des Spektakels. Teil 3 verschränkt Aufnahmen von flackernden Neonröhren im gegenwärtigen China mit Ausschnitten des Liedes Der Osten ist rot – gesungen von Raul Castro im Jahr 2008.
Teil 4 greift schließlich die exaltierte Videobotschaft einer deutschen Touristin aus Griechenland im Sommer 2015 – also während der Zuspitzung der sogenannten griechischen Finanzkrise – auf. Darin stilisiert sie den (momentanen) Verlust ihres Gepäcks zur persönlichen Lebenskrise.
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Pinar Ögrenci
*1973 in Van, lebt in Istanbul
Erika And The Night (Erika und die Nacht), 2016
Full HD-Film, 13’ 28’’

Erika and the Night ist der erste Kurzfilm der türkischen Künstlerin Pinar Ögrenci. Sie befindet sich im Haus von Erika Schlick in München. Die 84-jährige führt nachts Selbstgespräche und frischt somit ihre Erinnerungen auf. Ögrenci hat sich spontan entschieden, sie dabei zu filmen.
Besonderheiten in Alltagssituationen, zufällige Begegnungen, Überraschungen, aber auch Routinen, Erinnerungen und Angewohnheiten bilden die Inhalte in Ögrenci´s Arbeit. Die Beleuchtung dieser Details offenbart wie das Wissen und die Erfahrung aus der Geschichte unser Verhalten beeinflussen und dazu anstiften kann, unsere Umgebung zu gestalten.
Die Künstlerin interessiert sich dafür, inwiefern Kommunikationsmittel und Medien als Vermittlungsinstanzen für das zu Erinnernde und das zu Vergessende auftreten. Ögrenci sammelt ihr Videomaterial, indem sie mit ihrem fotografischen Instinkt bewegende Momente, welche ihr Leben beeinflussen, einfängt und somit ihr schöpferisches Potenzial aus ihrer eigenen Umgebung zieht: das Haus der Künstlerin, die Straßen und Länder, die sie bereist, die politischen Bewegungen, an denen sie teilnimmt, die Online-Nachrichten, die Sozialen Medien u.s.w. – all das wird zum Archiv, aus welchem ihre Arbeiten entstehen.
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Dorian de Rijk
geboren in Amsterdam, lebt in Amsterdam
Winging It (Improvisieren), 2016
Full HD-Video, 2’ 43’’

Sechzehn Jahre nach dem 11. September ist die Angst in New York immer noch zu spüren. Auf den Straßen sieht man Plakatwerbung, die dazu auffordert, mit seinen Kindern einen Katastrophenplan aufzustellen. Winging it zeigt die Wall Street und Ground Zero zwischen drei und vier Uhr morgens – eine der am strengsten bewachten Sicherheitszonen der USA und zugleich Finanzzentrum der sogenannten „westlichen Welt“ – in Zeitlupe. Das Video beobachtet Sicherheitsmänner, die in den riesigen Marmorhallen der Ratingagenturen auf ihren Schreibtischen eingeschlafen sind. Sie erscheinen wie Repräsentanten jener Schicht, die von dem System, das sie beschützen sollen, derart ausgelaugt werden, dass sie an ihrer Aufgabe zwangsläufig scheitern. Aus dem OFF ist die Stimme von Taylor Swift bei Good Morning America zu hören: als wolle sie zum revolutionären Umbruch auffordern. In den U-Bahnen werden die Fahrgäste mit folgender Durchsage an die terroristische Bedrohung erinnert: „Bleib am Leben und sei wachsam. Es ist dein Leben und das Leben der Menschen um dich herum.“ Aber wie soll man sein Leben leben, wenn man stets von Angst umgeben ist? Wie kann erwartet werden, dass jemand rund um die Uhr aufmerksam ist?
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belit sag
lebt in Amsterdam
Ayhan and me / Ayhan ve ben (Ayhan und ich), 2016
HD-Video, 13’ 48’’

Meinungsfreiheit zählt zu den grundlegenden Eigenschaften einer friedvollen und intakten Gesellschaft. Ihre Unterdrückung verweist unweigerlich auf ein diktatorisches Regime. Um an der Macht zu bleiben, muss jeder “Feind” nicht nur körperlich, sondern auch psychisch vernichtet werden. Die Zensur seitens der Regierung kann in eine willkürliche, gezielte und selbstauferlegte Form der Zensur durch kulturelle Institutionen münden. Zugleich macht der Staat den Grad der Unterdrückung bzw. Meinungsfreiheit an der Person, die unterdrückt werden soll, fest. Manche werden zensiert und genießen durch ihre Äußerungen Anerkennung. Andere werden dagegen härter bestraft, sogar mit der Todesstrafe, weil ihre Äußerungen die festgelegten Grenzen der Redefreiheit überschreiten. Der Video-Essay Ayhan And Me untersucht die Grenzen der Sichtbarkeit und Meinungsfreiheit im Kulturbetrieb und stellt Zusammenhänge zu anderen gesellschaftlichen Bereichen her. Er geht der Frage nach, welche Rolle Bilder unter Bedingungen der politischen Unterdrückung spielen. Die Künstlerin hat sich dafür diverser Quellen aus unterschiedlichen Medien bedient. Sie legt den Blick auf die Türkei und einen bestimmten Fall von Zensur. Es handelt sich um eine sehr persönliche Reise in die Welt der Bilder.
Die Videoarbeit zeigt Ayhan Çarkin, ein Mitglied der JITEM, einem inoffiziellen paramilitärischen Flügel der türkischen Sicherheitskräfte, der in den 1990er-Jahren aktiv an den massenhaften Ermordungen der kurdischen Bevölkerung beteiligt war. Çarkin gestand im Jahr 2011, dass er in den 1990er-Jahren Operationen durchgeführt hatte, die über 1000 Kurd_innen das Leben kostete. Dieses Geständnis wurde im Fernsehen gezeigt und die Videos sind auch auf Youtube zugänglich. Ayhan And Me wurde 2016 durch das Bankhaus Akbank Sanat zensiert, obwohl die Arbeit von Anfang an Teil jenes Ausstellungskonzepts war, das von einer Jury im Rahmen des internationalen Kurator_innenwettbewerbs der Akbank Sanat prämiert wurde. (belit sag)

If You Say It Forty Times... / Kirk Kere Söylersen … (Wenn du es vierzigmal sagst…), 2017
HD-Video, 5’ 05’’
Ton: Sergio González Cuervo, Übersetzung: Asl? Özgen Tuncer, Sevil Tunaboylu, Fatos Irven, Titel: Selj & Sinan

Die Videoarbeit beschäftigt sich mit der politischen Amnesie in der Türkei. Im Vordergrund stehen dabei Personen, die, um Gefahren oder Strafzahlungen zu vermeiden, eine Erinnerungslücke vorgeben. Einige von ihnen sind Teil der Trias aus Mafia, Staat und Drogen- und Waffenhandel und sollten besser nicht wissen, was sie wissen. Andere können sich ihr Handeln (zum Bespiel wenn sie sich in Fernsehshows öffentlich zu Kurd_innen bekannt haben) nur durch einen Moment fehlender Geistesgegenwärtigkeit erklären. Es gibt aber auch Personen, die nicht vergessen, was sie gesagt haben und zu ihrem Wort stehen. Da sie nicht schweigen, tauchen sie in den Massenmedien nicht mehr auf und müssen sich andere Wege suchen, um ihre Meinung öffentlich Kund zu tun. Das Video zeigt nicht nur eine Amnesie auf politischer Ebene, sondern auch im Privaten. Ayhan Cark?n aus dem Video Ayhan und ich ist eine dieser Personen, die niemals vergisst, was sie gesagt hat.
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Anika Schwarzlose
*1982 in Berlin, lebt in Amsterdam
Agendas And Containers (Agenden und Container), 2016
Plexiglas, Teppich, Gewebenetz, Maße variierend

Frieden kann auf vielerlei Weise hergestellt werden. Das Ende eines blutigen Krieges mag einst Frieden bedeutet haben. Für die Bewertung der aktuellen Geschehnisse und Konflikte bieten die von der Geschichtsschreibung klar definierten Schlachtfelder und Abkommen indes nur fehlerhafte und sogar illusorische Kriterien. Trotz unserer aktualisierten und skeptischen Vorstellung von der modernen Kriegsführung, hat diese dennoch nicht an Grausamkeit verloren. Tatsächlich ist die Gewalt aufgrund fortgeschrittener und präzisierter Methoden sowie im Zuge eines optimierten anspruchsvollen Bildmanagements sogar gestiegen. Die neuen Paradigmen der Kriegsführung scheinen selbst auf einem breiteren Feld der Institutionen wirksam zu sein. So behauptet John Perkins in seinem Buch Bekenntnisse eines Economic Hit Man (2004) zum Beispiel, dass internationale Organisationen, wie die Weltbank, in die gewaltsame Verdrängung von Staaten verwickelt sein könnten. Agendas and Containers ist eine Collage aus Fragmenten offizieller internationaler Institutionen. Beauftragt mit der Schaffung und Bewahrung des globalen Friedens, dienen sie der Vermittlung zwischen den Nationalstaaten. Durch die Verschiebung und Neuzusammensetzung der visuellen Erscheinungsbilder dieser internationalen Körperschaften wird ein hybrides Raumkontinuum inszeniert. Mit ihrem Verweis sowohl auf das Filmset eines Blockbusters als auch auf eine städtische Großbaustelle, spielt diese Arbeit auf den illusionären Charakter unserer Vorstellung von Zukunftsfähigkeit und Frieden an.
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Radek Szlaga
*1979 in Gliwice, lebt in Warschau
What We Think that They Think that We Think... (Freedom Club) [Was wir denken, dass sie denken, dass wir denken (Klub der Freiheit)], 2012 – fortlaufend
Installation
Courtesy: Der Künstler und Leto Gallery

Die von dem Künstler auf zwei Pinnwänden zusammengestellten schriftlichen und bildlichen Beweisstücke geben nur einen Bruchteil seines Langzeitprojektes Freedom Club wieder. Wissenschaftler_innen und Führungskräften aus den USA konnte es in den Jahren zwischen 1978 und 1995 geschehen, dass sie in ihren Briefkästen Briefe, die die Abkürzung FC trugen, vorfanden. FC stand für Freedom Club, einen Klub, den Theodore John “Ted” Kaczynski, besser bekannt unter dem Namen Unabomber, gegründet hatte. Offenbar blieb er das einzige Mitglied. Der Unabomber war  Mathematikgenie, Harvard-Absolvent und Professor. Er zog sich in die Natur zurück, weil er dort ein ursprüngliches Leben abseits der Zivilisation führen wollte und verschickte von dort aus sechszehn Briefbomben. Da die Polizei statt nach einem Einzeltäter, nach einer ganzen Gruppe suchte, erschöpften sich die Ermittlungen schnell. Erst als die Presse im Jahr 1995 ein Manifest des Unabombers veröffentlichte, erkannte Kaczynskis Bruder seine Handschrift und informierte die Polizei. Der Unabomber wollte mit seinen radikalen Aktionen die öffentliche Aufmerksamkeit auf die desaströsen Auswirkungen der industriellen Revolution lenken, die nach und nach die indivuellen Freiheiten unterdrücken und irreparable Umweltzerstörungen hinterlassen würden. Dies führe zuletzt zum Aussterben des Menschen selbst.
Drei Doppelmanuskripte, die jeweils auf zwei Bücher aufgeteilt sind, dienen als “Ikonologie” dieses Projekts. Es wird empfohlen, die beiden Bücher mit den Titeln Was wir denken, dass sie denken, dass wir denken und Was sie denken, dass wir denken, dass sie denken gleichzeitig durchzublättern, um zwei fiktive Geschichten parallel zu verfolgen.
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Aleksei Taruts
*1984 in Moskau, lebt in Moskau
High-Energy Objects (Hochenergetische Objekte), 2015–2017
Audio Installation, Serie an Objekten. Imaginäres Modell des Apophis-Asteroiden 99942, Messing
Ton: Körpa Klauz

Der Begriff “Hochenergieobjekte” taucht in den vorläufigen Berichten des niederländischen Untersuchungsausschusses zum Absturz der MH17 auf. Sie sollen für die Luftkatastrophe über dem Kriegsgebiet der Ostukraine verantwortlich gewesen sein. “Hochenergieobjekt” ist ein abstrakter Begriff, der zugleich ein Risiko benennt, das äußerst konkret ist. Einerseits existieren diese Objekte nicht, anderseits sind sie überall zu finden, zum Beispiel in unmittelbarer Nähe zu dieser Ausstellung in Stuttgart im Staatlichen Museum für Naturkunde (Museum am Löwentor) oder im Juweliergeschäft Jan Hofmann in der Calwer Straße 38.
Welche anderen Objekte haben ein tödliches Potenzial? Wie können wir den Grad der Gefährdung innerhalb sozialer Beziehungen und im Hinblick auf alltägliche Dinge einschätzen?
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Anastasiya Yarovenko
*1983 in Tula, lebt in Wien
For Humans By Humans (Für Menschen von Menschen), 2015–2016
Ein Forschungsprojekt: Poster und Objekte aus Schaumstoff / a research project: posters and foam objects
Grafikdesign / graphic design: Richard Zazworka

Damit sich Menschen gemäß der Interessen bestimmter sozialer Gruppen verhalten, werden sie mittels gezielter Strategien, Objekte und technischer Geräte beeinflusst. Unerwünschte Verhaltensweisen, unbequeme Personen, ungewöhnliche Lebensstile oder asoziales Verhalten werden von „normalen“ Menschen nicht akzeptiert. Die Städte versuchen ihr Image aufzubessern, indem sie die Armut und finanzielle Probleme einfach verbergen. Diese Einstellungen wirken sich auch auf die Entwicklung der Stadt und der Architektur aus. Die Probleme bleiben bestehen, werden jedoch kaschiert und überspielt. Design und Architektur fügen sich diesen Maßnahmen und werden genutzt, um „eine gesellschaftliche Spaltung zu erzwingen.“
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Jaha Koo
*1984 in Südkorea, lebt in Amsterdam und Brüssel
Lolling And Rolling, 2015
Performance am 25. Februar 2017

In Südkorea gab es eine große Kontroverse über die Kinderzungen-Chirurgie, die sogenannte linguale Frenektomie, mit der eine bessere englische Aussprache erreicht werden sollte. Manche Leute glaubten, dass dieser chirurgische Eingriff vor allem die Aussprache des „R“,  ein in der koreanischen Sprache nicht existenter Konsonant, begünstige. Einige Eltern haben ihren Kindern deshalb eine Zungenoperation aufgenötigt, obwohl diese ganz normale Zungen hatten. Die Performance Lolling and Rolling durchleuchtet die tragischen gesellschaftlichen Effekte, die in Südkorea dem Englischunterricht geschuldet sind. Theatermacher Jaha Koo nähert sich dieser Tragödie über eine fiktive Geschichte, Video- und Sound-Arbeit. Sie verhandelt nicht nur aktuelle Themen, sondern auch historische Ereignisse im Kontext von Kolonialismus und Imperialismus.

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