Acts of Voicing

EINFÜHRUNG

Die Stimme ist schwer zu fassen. Anders als Auge oder Ohr stellt sie kein einheitliches Sinnesorgan dar, sondern besteht aus dem flüchtigen Zusammenspiel mehrerer Organe wie Lunge, Stimmbänder, Zunge und Gaumen. Sie befindet sich immer zugleich innerhalb und außerhalb des Körpers, ist ebenso immateriell wie von beträchtlichem sozialem und politischem Gewicht. Sie bringt gleichermaßen Schrei und Rede, Sinn und Unsinn, Rauschen und Gesang hervor. Und sie ist nie nur Werkzeug der Artikulation, sondern immer auch mit Handlung verknüpft: Die Stimme kann Dinge benennen, befehlen oder einen Schwur leisten, Menschen für schuldig oder zu Mann und Frau erklären. „How to Do Things with Words?“ (Wie kann ich etwas mit Worten tun) lautete 1962 die Frage des Begründers der Sprechakttheorie John L. Austin.
 
Die Ausstellung Acts of Voicing widmet sich der ästhetischen, performativen und politischen Bedeutung der Stimme aus der Perspektive von bildender Kunst, Tanz, Performance und Theorie. Das Projekt rückt den Handlungs- und Aufführungscharakter der Stimme in den Blick. Dabei geht es gleichermaßen um die widerständige wie um die disziplinierte und disziplinierende Stimme, um solche Stimmen, die gehört, und andere, die nicht gehört werden. Der Kampf darum, seiner Stimme Gehör zu verschaffen, wird ebenso beleuchtet wie der Akt, Stimmen zum Schweigen oder zum Sprechen zu bringen.
 
Die Ausstellung, für die eine spezielle Architektur entwickelt wurde, zeigt hierzu nicht nur Exponate von über 30 KünstlerInnen, sondern begreift sich zugleich als Bühne für Performances, Workshops und Vorträge sowie eine Reihe von prozessualen Installationen, die im Verlauf der Ausstellung erweitert werden und das Gesamtszenario beständig verschieben. Anstelle einer statischen Situation soll ein sich immer wieder verändernder Erfahrungsraum entstehen, durch den hindurch sich die BesucherInnen auch im physischen Sinne auf unterschiedlichen Ebenen bewegen. Sowohl die Ausstellungschoreografie als auch ihr Display spielen mit dem performativen Charakter der Stimme.

Das Projekt basiert auf einer Kooperation des Württembergischen Kunstvereins Stuttgart mit dem Para/Site Art Space in Hongkong, dem Total Museum of Contemporary Art in Seoul sowie Caminul Cultural in Bukarest und wurde bzw. wird von den KuratorInnen Iris Dressler, Hans D. Christ, Christine Peters, Cosmin Costinas und Nathalie Boseul Shin entwickelt.

Zur Ausstellung erscheint ein Reader und ein detailliertes Programmheft. Sie wird 2013 in modifizierter Form im Para/Site Art Space in Hongkong und im Total Museum in Seoul zu sehen sein. Eine abschließende Dokumentation des Projektes erscheint im Herbst 2013.

Die Politiken und Poetiken der Stimme

Die politischen Dimensionen der Stimme, die Acts of Voicing befragt und die noch in Begriffen wie Parlament, Stimmrecht oder Abstimmung anklingen, lassen sich bis auf die griechische Antike zurückführen. So unterscheidet Aristoteles, der Begründer der politischen Philosophie, zwischen der bloßen Stimme (phoné), das heißt dem Schrei, der nur Lust oder Schmerz äußern kann, und der Bedeutung produzierenden Stimme (lógos), die das Gerechte und Ungerechte, das Gute und Böse auszudrücken vermag: eine Differenz, die – zumindest in den abendländischen Denktraditionen – ausschlaggebend für die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier, dem bloßen und dem politischen Leben ist: das heißt zwischen den aus der politischen Gemeinschaft Aus- und in diese Eingeschlossenen.

Dagegen ereignet sich für den französischen Philosophen Jacques Rancière politisches ebenso wie ästhetisches Handeln in der unablässigen Anfechtung und Neuaufteilung eben jener Ordnung, die dafür sorgt, dass die Stimmen der Einen als Rede, und die der Anderen nur als Schrei vernommen werden. Es geht darum, die bestehenden Ordnungen – seien diese sinnlicher, gesellschaftlicher, politischer, räumlicher oder ästhetischer Art – aufzubrechen und Fremdes, das, was ausgeschlossen war, in sie einzuführen.

Was bedeutet es, umgekehrt, sich der Stimme des Anderen zuzuwenden? Einer Stimme, die, so der indische Schriftsteller Ranjit Hoskoté, plötzlich, ohne Vorwarnung da ist:
 
Sie " … sprengt die Texturen der Erfahrung des Hörers statt sie zu glätten; sie verlangt, dass der Hörer sich mit seinem ganzen Körper mit der Bedeutung auseinandersetzt und dabei seine Existenz aufs Spiel setzt. Sich einer solchen Stimme zuzuwenden, der Stimme des Anderen, des zuweilen erhabenen und Furcht einflößenden Anderen, sprengt das zuhörende Ich und setzt es wieder neu zusammen." (www.initiative-humboldt-forum.eu)

Dabei wohnt der Stimme, die sich weder gänzlich innerhalb noch gänzlich außerhalb des Körpers befindet, grundsätzlich ein fremder Kern inne. In den technischen Wiedergaben unserer eigenen Stimme dringt dieser fremde Kern bekanntlich auf schockierende Weise durch. Es scheint, wie Slavoj Žižek schreibt, als gehörte die Stimme nie ganz zu dem Körper des Sprechers, als sei beim Sprechen immer auch ein Stück Bauchrednerei im Spiel.

Acts of Voicing geht diesem fremden Kern, das heißt jenem Paradox der Stimme nach, zugleich eigen und fremd, innerlich und äußerlich, an den Körper (und das Wort) gebunden und von diesen losgelöst zu sein. Denn es ist die Lücke zwischen der eigenen und fremden, inneren und äußeren Stimme, die den Raum des Politischen und des Poetischen öffnet.

Ausstellungschoreografie

Acts of Voicing fragt – als transdisziplinäres Projekt – nicht nur nach den Beziehungen zwischen bildender Kunst, Tanz, Performance und Theorie, sondern auch nach der Neubestimmung ihrer Handlungs- und Aufführungsräume. Wie lassen sich in einer Ausstellung die Strukturen von Zeit, Handlung und Bewegung, die Beziehung zwischen AutorIn, Exponat und BesucherIn neu und fließend anordnen?

Zentrales Element ist dabei eine Reihe von performativen Installationen, Archivanordnungen und Arbeitsplattformen, die im Verlauf der Ausstellung permanent von den KünstlerInnen und BesucherInnen erweitert und verschoben werden. Sie bilden zugleich den Raum und Rahmen für Veranstaltungen wie Performances, Vorträge, Diskussionen, Workshops und Filmprogramme, die die Ausstellung zusätzlich durchkreuzen und immer wieder reformulieren sollen. Der Emergence Room von deufert + plischke ist dabei die zentrale und zugleich mit weiteren Stationen vernetzte Struktur, die Stimme, Handlung und Wissen der BesucherInnen in die Ausstellung einbezieht. Die Installationen von Daniel García Andújar, Fadi Toufic und Minouk Lim stellen darüber hinaus Schnittstellen zum öffentlichen Raum her.

Acts of Voicing ist als Gesamtdisplay und ein Gefüge konzipiert, das immer neue und überraschende Lektüren und Beziehungen zwischen Kunstwerk und Ereignis, Ausstellung und Aufführung, der räumlichen Situation und den BetrachterInnen, Kunst und Theorie hervorbringt.

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