Ein Loch im Meer

21. Mai bis 21. August 2016
Zbynek Baladrán, George Brecht, Matthew Buckingham, Annalisa Cannito, Chen Chieh-jen, Tacita Dean, Barry Flanagan, Sven Johne, Quinn Latimer, Zoe Leonard, Pia Linz, Hew Locke, László Moholy-Nagy, Mehreen Murtaza, Jean Painlevé, Lisa Rave, Julia Rometti / Victor Costales, Cristian Rusu und andere
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Es ist als ob das Meer nicht nur der Archetypus aller glatten Räume gewesen ist, sondern der erste dieser Räume, der eine Einkerbung erdulden musste, die ihn in zunehmendem Maße unterwarf und … mit Rastern überzog … Der glatte Raum ist zuerst auf dem Meer gezähmt worden, auf dem Meer hat man ein Modell für die Raumaufteilung, für das Aufzwingen der Einkerbung gefunden …
(Gilles Deleuze und Félix Guattari, Tausend Plateaus, Berlin 1992, S. 665)

Vom 21. Mai bis zum 21. August 2016 zeigt der Württembergische Kunstverein die Ausstellung Ein Loch im Meer. Der Titel verweist auf eine Intervention des britischen Konzeptkünstlers Barry Flanagan, der 1969 für Gerry Schums Fernsehgalerie ein Loch im Meer schuf. Bei Ebbe platzierte er einen Plexiglaszylinder im Watt, der bei steigender Flut in extremer Aufsicht gefilmt wurde. Für einen kurzen Moment entstand so ein Loch im Meer – bis es sich in den Strömungen der Wassermassen wieder verlor.

Von diesem flüchtigen paradoxen Bild ausgehend – der formalen Durchdringung von zwei so schwer fassbaren Dingen wie Loch und Meer, die beide eine gewisse Negativität, das Ende von etwas, eine Grenze darstellen – widmet sich die Ausstellung der Unwegsamkeit und scheinbaren Beherrschbarkeit, den Imaginationen und (Geo)Politiken von Meer-, Land- und Luftraum.

Themen wie Kartierungen, Raster und Navigation sind dabei ebenso von Relevanz wie Nationalismus und Kolonialismus, Handelswege und Piraterie, Migration und Tourismus. Gefragt wird nach den Machtverhältnissen, die durch Methoden der Vermessung, Einordnung und Abgrenzung hervorgebracht werden – und nach den Möglichkeiten und Formen der Verkehrung, Überschreitung oder Auflösung dieser an sich immer schon instabilen Verhältnisse.

Über die instabilen Beziehungen zwischen dem „gekerbten“, das heißt dem kartierten und vermessenen Raum der Sesshaften, dessen Archetyp das Land bzw. die Stadt darstellen, und dem „glatten“, unstrukturierten und offenen Raum der Nomaden, wie ihn das Meer repräsentiert, schreiben Gilles Deleuze und Félix Guattari: Der „glatte Raum wird unaufhörlich in einen gekerbten Raum übertragen und überführt; der gekerbte Raum wird ständig umgekrempelt, in einen glatten Raum zurückverwandelt.“ (Tausend Plateaus, S. 658).

Den Rastern und Zäunen des „gekerbten Raums“ wohnt demzufolge eine prinzipielle Hinfälligkeit inne. So bringt auch die heutige Besessenheit, unermüdlich Mauern zu errichten, nur artifizielle und theatrale Grenzen hervor, die früher oder später wieder eingerissen werden. Die Theatralität – und zugleich fatale Tödlichkeit – dieser willkürlichen Grenzen und Zäune spiegelt sich vielleicht nirgends so deutlich wieder wie in der jetzigen Krise Europas.

Neben der kartografischen und geopolitischen Aufteilung von Meer-, Land- und Luftraum, beschäftigt sich die Ausstellung auch mit den mythischen Figuren, die diese Ordnungen durchdringen. Eine besondere Rolle kommt dabei dem Schiff zu. Für Michel Foucault repräsentiert es – als Negation des Raums, als Ort ohne Ort, als Heterotopie par excellence – bekanntlich „nicht nur das wichtigste Instrument zur wirtschaftlichen Entwicklung …“, sondern „auch das größte Reservoir für die Phantasie“ (Michel Foucault, „Von anderen Räumen“, in: Schriften in vier Bänden, Bd. 4, Frankfurt 2005, S. 942).

Die Ausstellung sucht diese Gegenorte – die paradoxen Räume der Löcher, Meere oder Schiffe – als imaginäre, utopische, politische und anarchistische Orte auf, die die bestehenden geopolitischen Ordnungen aushöhlen. Es geht um die Erfindung anderer Karten, die den unvorhersehbaren Routen der Piratenschiffe folgen.

Neben künstlerischen Arbeiten der 1960er-Jahre bis heute, die Zeichnungen, Fotografie, Objekte und filmische Werke umfassen, zeigt die Ausstellung auch eine Reihe von historischen Materialien aus den Bereichen Kunst, Wissenschaft und Populärkultur. 

deueng
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Württembergischer Kunstverein Stuttgart