Contenance
Fassung Bewahren


17. September – 13. November 2005  

Marina Abramovic / Ulay , NL, Valérie Belin, FR, Gary Carsley, AUS, Daniel Herskowitz, USA, Teresa Hubbard / Alexander Birchler, USA/ CH, Lee Se-jung, ROK, Loretta Lux, D, Frédéric Moser / Philippe Schwinger, CH, Shahryar Nashat, CH, Carolina Saquel, RCH/FR  

Eröffnung:
Freitag, 16. September, 19 Uhr  

Rundgang mit den KünstlerInnen:
Samstag, 17. September, 13 Uhr  

Kostenlose Führungen:
Sonntags ab 15 Uhr

Kurzbeschreibung
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Die Ausstellung "Contenance. Fassung Bewahren" zeigt Fotografien und Videoinstallationen, die um die Verfassung des modernen Subjektes kreisen: um seine Verhaltensregeln, sein Begehren, seine Ängste, Konflikte und Verdrängungsleistungen. Es geht um das Modell eines bürgerlichen Selbst, das sich im Wesentlichen über Oppositionen formiert: Zivilisation versus Wildnis, Ordnung versus Chaos, Ratio versus Emotion. Ein Modell, dem die Kontrolle über Leidenschaften gleichermaßen innewohnt wie der Ausbruch aus den Konventionen und die Regulierung der Verhältnisse, sobald sie aus den Fugen geraten sind.

Die KünstlerInnen der Ausstellung greifen die Widersprüche innerhalb dieser gesellschaftlichen Regularien auf. Sie untersuchen die Rituale und Beziehungsmuster, wie sie die Familie und andere soziale Gefüge ausprägen. Sie gehen den Effekten der Domestizierung und Disziplinierung von Natur, Mensch und Tier nach: und dies immer an den Schwellen zwischen "Fassung bewahren" und "Fassung verlieren".

Selbstbeherrschung und Kontrollverlust werden von den KünstlerInnen dabei gleichermaßen überzeichnet. Sie übertragen das Wirkliche auf das Feld des Theatralischen, Künstlichen und Konstruierten, um darin die psychischen Tiefenräume des Selbst in seinen Beziehungen zum Anderen auszuloten. Ironie und Schrecken, das Unheimliche und Vertraute, Bewusstsein und Unbewusstes durchziehen die Erzählungen der KünstlerInnen. Es ist das Widerständige, Tragische und Komische innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung, das darüber freigesetzt wird.


Werke

Die Videoinstallation "House with Pool" von Teresa Hubbard und Alexander Birchler kreist um das Verhältnis zwischen zwei Frauen – Mutter und Tochter? –, das zu eskalieren droht. Doch das angedeutete Drama führt immer nur in die Endlosschleife einer verpassten, aufgeschobenen Konfrontation: zwischen dem Bewussten und Unbewussten, Inneren und Äußeren, Vergangenen und Gegenwärtigen. Der Film wird von einem steten Wechsel unterschwelliger Emotionen getragen, die gerade in der Zurückhaltung die Situation dominieren.

Während "House with Pool" das Unbewusste ganz ohne Worte zur Sprache bringt, ist es in Shahryar Nashats Videoinstallation "All The Way Back, The Reconstruction" die Sprache selbst, in der sich Bewusstsein und Unbewusstes, Realität und Imagination durchdringen. Ein Mann flüchtet aus einem Raum und lässt einen Mann zurück, der auf einem Bett liegt. Entlang dieser "Fakten" entfaltet sich eine potentielle Horrorgeschichte, die in ihrem traumatischen Fortkommen beständig auf der Stelle tritt und deren Bilder primär in der Imagination des Betrachters entstehen.

Auch die Geschichte, die in der Videoinstallation "Acting Facts“ von Frédéric Moser und Philippe Schwinger erzählt wird, ereignet sich im Wesentlichen in der Vorstellungskraft des Betrachters. In Form einer Solo-Performance reinszeniert der Protagonist das Massaker, das US-Soldaten während des Vietnamkrieges in My Lai an Hunderten vietnamesischen ZivilistInnen verübt haben. Emotionalität und Fassungslosigkeit finden hier erst in der theatralischen Überzeichnung ihre Sprache.

Die beiden Videoarbeiten von Daniel Herskowitz gehen Strukturen des Erzählens und des Überzeugens nach. In "Conference on Human Ethology" beobachtet die Kamera das Aufeinanderprallen verschiedener Teilnehmer einer Konferenz, die wir über ihre Geschichten und über die Art und Weise, wie sie diese erzählen, kennenlernen. In „Fitness“ tragen vier Männer ihre Diskussion über Migration in der Umkleidekabine eines Fitnesscenters aus: Einer Zwischenwelt, die weder von bestechender Rationalität noch von direkter Erfahrung geprägt ist.

In ihrem Video "Light/Dark“ von 1977 ohrfeigen sich Marina Abramovic und Ulay gegenseitig so lange, bis einer der beiden das stoische Ritual aufgibt. Jenseits von Aggressivität loten sie die Schwellen zwischen Hemmung, Respekt und Grenzüberschreitung aus.  

Lee Se-jung
kreist in ihrem Performancevideo um die eigenen physischen Grenzen. In einem Spiel um An- und Abwesenheit verschluckt sie permanent das eigene Gesicht, das sie zuvor auf eine Plastiktüte gezeichnet hat, in der ihr Kopf steckt.  

An- und abwesend zugleich sind auch die prachtvoll gekleideten marokkanischen Bräute, die Valérie Belin in ihren schwarz-weiß Fotografien porträtiert. Sie verschwinden hinter ihrer aufwändig exponierten Präsenz, scheinen vollständig im Diktat des Ornaments aufzugehen.  

In Gary Carsleys Landschaftsbildern ist es die Natur, die hinter dem Dekor auf gleich mehrfache Weise zurücktritt. Es handelt sich um digital hergestellte Intarsien, die nicht die Materialität von Holz, sondern von Laminat imitieren. Sie entstehen nach der Vorlage von Fotografien, die Gärten und Parkanlagen – also gestaltete Natur – zeigen. So findet der Baum, dessen Anordnung im Park bereits dem Kamerablick unterstellt ist, im Laminat, jenem auf Fotografie basierenden Holzimitat, scheinbar zu sich selbst. Und doch ist er nur Bestandteil einer aus Pixeln aufgebauten Illusion.

Das Motiv des Dressurreitens – ein Archetyp der domestizierten Natur – wird in Carolina Saquels Video “Pentimenti“ zum Spiegelbild der Disziplinierung menschlichen Verhaltens. Das Drama des Gehorsams findet seinen eindringlichen Höhepunkt in dem Moment wo das Pferd zum Sitzen getrieben wird.

Geradezu unheimlich muten die digital manipulierten Kinderporträts von Loretta Lux an. Ihren Gesten und Haltungen ist das Erwachsensein bereits eingeschrieben. Dennoch – oder gerade deshalb – bleibt es ihnen verwehrt, sich als Projektionsfläche bürgerlicher Kindheitsvorstellungen zu entziehen. Irgendwo in dieser Ortlosigkeit zwischen frühreifer Souveränität und totalitärer Fremdbestimmung scheinen
sie verloren gegangen zu sein.


Eröffnung:
Freitag, 16. September, 19 Uhr

Rundgang mit den KünstlerInnen:
Samstag, 17. September, 13 Uhr

Kostenlose Führungen:
Sonntags ab 15 Uhr

Führungen nach Vereinbarung:
25 EUR pauschal zzgl. 3 Eur/Person

Eintritt:
5 / 3 EUR

Öffnungszeiten:
Di, Do – So: 11 – 18 Uhr
Mi: 11 – 20 Uhr


Adresse:
Schlossplatz 2, D – 70173 Stuttgart

Kontakt:
T: +49 (0)711 – 22 33 70
F: +49 (0)711 – 29 36 17
info@wkv-stuttgart.de
www.wkv-stuttgart.de


Gefördert durch:
Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg
Kulturamt der Stadt Stuttgart





Loretta Lux, Girl with a Loaf of Bread, 2001, Courtesy: TORCH Gallery, Amsterdam
 

Teresa Hubbard/ Alexander Birchler
House with Pool, 2004, Still

 

Shahryar Nashat
All The Way Back,
The Reconstruction, 2001, Still

 

Frédéric Moser / Philippe Schwinger
Acting Facts, 2003, Still

 

Lee Se-jung
Face, 2002, Still

 

Valérie Belin
Ohne Titel, 2000

 

Gary Carsley
Centennial Park Sidney, 2004

 

Carolina Saquel
Pentimenti, 2003, Still

 
Daniel Herskowitz, Fitness, 2003, Video, Still
 
Daniel Herskowitz, Conference on Human Ethology, 2003 , Video, Still