Oh, My Complex

Dennis Meadows, Die Grenzen des Wachstums, 1972, Buchcover
Lim Minouk, "New Town Ghost", Videodokumentation einer Performance, 2005

EINFÜHRUNG

Vom 17. Mai bis zum 29. Juli 2012 zeigt der Württembergische Kunstverein Stuttgart die Ausstellung Oh, My Complex. Vom Unbehagen beim Anblick der Stadt, die sich den Imaginationen, Repräsentationen und Wirklichkeiten von Stadt aus unterschiedlichen Richtungen nähert: von den architektonischen und urbanen Konstruktionen der 1930er-Jahre bis heute; von Europa, den USA und Südamerika bis Asien; aus den Perspektiven der Kunst, Ausstellungs-, Pop- und Protestkulturen seit den 1970er-Jahren.
 
In einem offenen Parcours, der den Außen- mit dem Innenraum verbindet, zeigt die Ausstellung Arbeiten von über 20 KünstlerInnen, die die städtebaulichen, sozialen, politischen und ökonomischen Konfliktlinien der Stadt in den Blick nehmen. Sie treffen auf historische Dokumente unterschiedlichster Art – bis hin zu Rekonstruktionen von Ausstellungsdisplays –  sowie auf Objekte aus pop- und subkulturellen Kontexten.

Neben bestehenden Werken – darunter eine große Neonarbeit von Ludger Gerdes, die temporär von der Fassade des Rathauses in Marl nach Stuttgart wandert –, umfasst die Ausstellung auch neue Produktionen.
 
Oh, My Complex fokussiert Werke, die den ideologischen Implikationen urbaner Visionen nachgehen. Gemeint sind jene Visionen, wie sie sich in den modernistischen Utopien der Stadt, in den Modellen der neoliberalen Boomtown, aber auch in den Krisenszenarien manifestieren, die unsere kollektiven Vorstellungswelten seit den 1970er-Jahren – nicht zuletzt seit Erscheinen des Bestsellers Die Grenzen des Wachstums von Dennis Meadows (1972) – bewohnen.
 
Es geht um das, was sich in und hinter diesen Imaginationen gleichermaßen zeigt und verbirgt: insbesondere im Hinblick auf die Widerstände zwischen Stadtplanung, Architektur, Politik, Ökonomie, StadtbewohnerInnen und StadtnutzerInnen.
 
In ihren Arbeiten, die von Gouachen über Scherenschnitte, Fotoserien, Videoclips und multimediale Installationen bis hin zu urbanen Interventionen reichen, untersuchen die KünstlerInnen sowohl den imaginären als auch den konkret gebauten Raum der Stadt. Sie über- und hintertreiben die Machtstrukturen modernistischer und postmoderner Planung, loten jene Visionen einer Architektur, die – vom Bauhaus bis zur sozialistischen Stadtplanung – einen neuen, besseren Menschen hervorbringen wollte, ebenso aus, wie die umkämpften Räume neoliberaler (Stadt-)Politiken.

Die Ausstellung

Die historischen Kontexte der Ausstellung, die von den 1930er-Jahren bis heute reichen, werden nicht in Form eines chronologisch organisierten Raumsettings verhandelt, sondern aus der Perspektive zeitgenössischer künstlerischer Aneignungen. Diese treten wiederum in Dialog mit den Materialien eines umfangreichen Bild-, Literatur- und Filmarchivs sowie pop- und subkulturellen Artikulationen, darunter diverse Musikclips oder ein anonym auf Youtube veröffentlichtes Video über die halsbrecherische Mountainbike-Rallye quer durch eine Favela.

Darüber hinaus greift die Ausstellung auch auf zwei historische Ausstellungen bzw. Ausstellungsdisplays zurück, die von ihren Kontexten und Motiven her nicht unterschiedlicher sein könnten. Zum einen handelt es sich um die Rekonstruktion der legendären zeitkritischen Ausstellung Über die moderne Art zu leben, die Michael Fehr 1977 zusammen mit Diethelm Koch im Museum Bochum realisierte. Zum anderen geht es um Martin Eberles Fotodokumentation jener 50 Tafeln, die in der staatlichen Akademie der Architektur in Pjöngjang zahllose Ikonen der Weltarchitektur – von den Druidensteinen bis zum Guggenheim Museum in New York – versammeln; Ikonen die für den Aufbau der nordkoreanischen Hauptstadt im Geiste des Sozialismus angeblich als Fundus und Vorlage dienten.

Eine weitere räumliche und kontextuelle Verrückung erfährt Ludger Gerdes’ Neonarbeit Angst, die er 1989 für die Fassade des ganz in der Tradition des Brutalismus stehenden Rathauses der Stadt Marl entwickelte und die nun temporär an die Fassade des Kunstvereins wandern wird. Sie besteht aus dem Wort Angst, das von zwei Piktogrammen, die einen Golfspieler und eine Kirche zeigen, gerahmt wird.

Zu den Außenarbeiten zählt darüber hinaus ein Projekt des Stuttgarter Künstlers Pablo Wendel. Dabei handelt es sich um eine aus recycelten Materialien gebaute, begehbare Skulptur, die als Plattform für Veranstaltungen sowie für ein guerillataktisches Projekt der Energie-Umverteilung genutzt werden soll.

Der Ausstellungstitel ist einer Video-Performance der südkoreanischen Künstlerin Lim Minouk entliehen. Die Kamera folgt hier einer von einem Schlagzeugspieler begleiteten Sängerin, die auf einem Pickup durch verschiedene Stadteile Seouls fährt und dabei in Punk-Manier die vom asiatischen Turbo-Kapitalismus geprägte Stadt anbrüllt.

In diesem Bild des sich gegen alle Widerstände Raum und Gehör verschaffenden Körpers zeichnet sich jener Konflikt ab, um den die Ausstellung Oh, My Complex im Wesentlichen kreist: den Streit um die Herstellung, Aufteilung und Nutzung von Raum – und all die Widersprüche, die mit diesem Streit verbunden sind.

deueng
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