Geste,

EINFÜHRUNG

Geste à peau
Mit rauer, flüsternder Stimme schildert Suzanne Hommel in Gérard Millers Dokumentarfilm Rendez-vous chez Lacan (2012) eine Sitzung mit dem französischen Psychoanalytiker Jacques Lacan. Nachdem sie diesem erzählt hatte, dass sie jeden Morgen um fünf Uhr aufwachen würde, nämlich zu jener Uhrzeit, als während des Nationalsozialismus die Gestapo die Juden holen kam, sei dieser aufgesprungen und habe ihr auf außerordentlich zärtliche Weise die Wange gestreichelt. Diese Berührung, die sie auch nach 40 Jahren noch immer spüren könne, habe zwar nicht ihr Leiden verringert, aber einen entscheidenden Wandel herbeigeführt. Hommel habe sie als Geste, als „geste à peau“, eine „Geste auf der Haut“ verstanden. Aus der Gestapo ist die „geste à peau“ geworden, ein, wie sie sagt, „Apell an die Menschlichkeit.“

Ausgelöst durch eine Berührung wurde hier das Unaussprechliche in ein Sprachspiel verschoben. Ein Unvermögen zu sprechen, eine Sprachlücke konnte dadurch zwar nicht behoben, jedoch angezeigt, überspielt und in etwas anderes, in einen Sprachwitz transformiert werden.
 
Das englische Wort gag bedeutet sowohl Knebel als auch Witz. Es bezieht sich, wie der italienische Philosoph Giorgio Agamben in Noten zur Geste schreibt, auf etwas, das „in den Mund gesteckt wird, um am Sprechen zu hindern“, und zugleich auf die „Improvisation des Schauspielers“, mit der er „eine Erinnerungslücke oder ein Unvermögen zu sprechen überspielt.“
 
Die Geste, so Agamben, entspricht diesem Überspielen der Stummheit. Sie führt den medialen Charakter der Körperbewegung und zugleich die Sprache als ein lückenhaftes Medium, als Sprachfehler vor. Die Geste, schreibt er, ist „buchstäblich eine Definition des gag“. Sie ist „in ihrem Wesen immer Geste des Sich-nicht-Zurechtfindens in der Sprache.“ Sie ist das, „was in jedem Akt des Ausdrucks unausgedrückt bleibt.“

Die Ausstellung

Die Ausstellung Geste,, die vom 24. Mai bis 3. August 2014 im Württembergischen Kunstverein in Stuttgart zu sehen ist, rückt die menschliche Geste in den Blick und nähert sich ihr aus philosophischer, medialer und künstlerischer Perspektive.

Dabei setzt sie an dem Zeichen- und Aufführungscharakter der Geste, ihrer Medialität und Theatralität an. Es geht um das, was die Geste zugleich vorführt und überspielt, nämlich ein Unvermögen zu sprechen, eine Sprachhemmung, das „Sich-Nicht-Zurecht-Finden“ des Menschen in der Sprache. Der Fokus liegt also nicht so sehr auf dem Ausdruckspotenzial der Geste als vielmehr auf einer Sprachverlegenheit, auf die sie verweist: jenen Knebel, der (in der englischen Sprache) zugleich ein Witz ist – und der sich im Titel der Ausstellung in gewisser Weise durch das Kommazeichen ankündigt.

Die Ausstellung kreist um die Ambivalenz der Geste: das heißt, um das, was sie sagt und verschweigt, das was sie zeigt und verbirgt, aber auch um ihre Ansiedlung zwischen Aktivität und Passivität, Bewusstem und Unbewusstem, Steuerung und Außer-Kontrolle-Geraten, Tanzen und Taumeln. Gehen ist bekanntlich nichts anderes als ein vorübergehender Gleichgewichtsverlust. Kurz vor dem Fallen gewinnt man die Balance zurück und kann sich schadlos fortbewegen. Irgendwo dazwischen könnte man die Geste vermuten.

Die Geste ist immer zugleich Dynamik und Stillstand. Sie erscheint in der Unterbrechung einer Bewegung, auf die sie zugleich verweist. Insofern sind ihr die Techniken von Fotografie und Kino, die Bewegung einfrieren, in isolierte Gesten zerhacken und neu zusammenfügen, auf besondere Weise eingeschrieben. Ihnen kommt in der Ausstellung zentrale Bedeutung zu, haben doch erst Fotografie und Film bestimmte Bewegungsabläufe als Abfolgen einzelner Gesten sichtbar gemacht, ganz zu schweigen von den Pathosformeln und Zuckungen, Posen und Possen, die uns die Fotografie und das frühe Kino hinterließen. Sie zeugen, so Agamben, vom Verlust der Geste am Ende des 19. Jahrhunderts. „Im Kino“, so schreibt er, „versucht eine Gesellschaft, die ihre Gesten verloren hat, sich das Verlorene wieder anzueignen, und registriert zugleich den Verlust.“

In Erweiterung des von Gilles Deleuze für das Kino geprägten Begriffs des „Bewegungs-Bildes“ schlägt Agamben vor, nicht nur das Filmbild, sondern Bilder per se als Gesten zu begreifen. Auch Gemälde seien keine unbeweglichen oder ewigen Formen, „sondern mit Bewegung aufgeladene … Stills eines fehlenden Films … Zu diesem Film muss man sie neu zusammenfügen.“ Die Geste und das Bild (im modernen Verständnis) fungierten als Schnitt – und zwar als ein beweglicher, zugleich trennender wie verbindender Schnitt – zwischen Stillstand und Bewegung, Aktuellem und Potenziellem, Isolation und Montage.

So wird das Herauslösen der Dinge aus ihrem Zusammenhang und ihre Neuanordnung in (verschobenen, widersinnigen) Sequenzen in der Ausstellung nicht nur als kinematografisches Prinzip , sondern auch als künstlerische Methode beleuchtet, die Bilder als Einzelbilder eines möglichen, vakanten Films, einer möglichen, vakanten Erzählung verhandelt.

Ein weiterer Aspekt betrifft, neben den ästhetischen, auch die gesellschaftspolitischen und wissenschaftlichen Einschreibungen in die Geste. Dabei geht es nicht nur darum, inwiefern soziale Ordnungen wie Klasse, Geschlecht und Ethnie oder wissenschaftliche Diskurse wie die Medizin samt ihren Apparaturen auf den Körper einwirken und bestimmte Gesten erst hervorbringen. Es geht auch um das subversive, widerständige Spiel mit diesen Einschreibungen wie etwa in Form von feministischen und queeren Aneignungen.

Weit davon entfernt, eine Theorie der Geste aufstellen zu wollen, greift die Ausstellung eine Reihe von theoretischen und ästhetischen Ansätzen zur Geste auf, die sich diesem Gegenstand auf eher verzweigte denn geradlinige Weise nähern. In Anknüpfung an das Projekt Acts of Voicing (2012), das sich mit den politischen und ästhetischen Dimensionen der Stimme beschäftigte, geht es darum, die Poetiken und Politiken der Geste auf verschiedenen Ebenen auszuloten.

Während KünstlerInnen wie Bruce McLean und Dominik in ihren Arbeiten das Sich-Nicht-Zurechtfinden in der Sprache vorführen, nehmen Laura Bielau und Anita Witek die Produktionsräume und -anordnungen der Fotografie – wie Labor oder Fotostudio – und deren Auswirkungen auf Pose und Geste in den Blick. Die Beziehungen zwischen Körper, Bewegung, Geste und Filmtechnik treten bereits in den frühen Stummfilmen der Lumière Brüder sowie Georges Méliès deutlich hervor. Leigh Bowery erweitert diese Beziehung in seiner melancholischen, von Cerith Wyn Evans gefilmten Videoperformance von 1988 in der Londoner d’Offay Gallery um das Element des Spiegels. In Geumhyung Jeongs Stopptrickvideo Record, Stop, Play von 2011 gerät die filmische Apparatur schließlich selbst zum Akteur.

Der Einübung sozialer und insbesondere geschlechtlicher Gesten und Körperhaltungen gehen Marianne Wex und Margit Emmrich in ihren umfangreichen Fotostudien und Gülsün Karamustafa auf der Basis von Found-footage nach. Während wir bei Karamustafa den taumelnden Versuchen eines kleinen Mädchens, im Kreis zu tanzen, beiwohnen, lotet Emmrich die Körperformationen an der Schwelle zwischen Kindheit und Pubertät und Wex deren Ausformulierung bei Erwachsenen aus. Um die Aneignung und Unterwanderung stereotyper Posen und Gesten von Weiblichkeit geht es in Maja Vukojes glitzernder Malerei-Serie 10 Divas.

Eine Zuspitzung der Zeichenhaftigkeit des Körpers wird in Vukojes Bildern von Hut, High Heels und Büstenhalter, in Banu Narcisos Zeichnung von Haaren und in Till Gathmanns Projekt über den Laienschriftforscher Alfred Kallil vorgenommen. Lutz Försters gebärdensprachliche Interpretation des Lieds The Man I Love wiederum oszilliert an den Grenzen von Zeichen und Geste, Körper und Sprache, Bewegung und Tanz, Beredsamkeit und Schweigen.

Den wissenschaftlichen und technischen Blick auf Körper und Körperbewegung greifen Douglas Gordon und Tibor Szemzö in ihren auf Found-footage basierenden filmischen Arbeiten auf.

Während sich in Gordons und Karamustafas Videoarbeiten die Spannung zwischen Gehen und Fallen, Tanzen und Taumeln, Bewegung und Stillstand in der ganzen Tragik des Scheiterns äußert, gerät diese in David Hintons ebenfalls auf historischem Filmmaterial beruhender Videoarbeit Snow zum Slapstick.
 
Die politischen und gesellschaftlichen Gesten nehmen Vangelis Vlahos und das Duo Karen Mirza und Brad Butler in den Blick.

Neben Werken von zeitgenössischen KünstlerInnen aus den Bereichen Bildende Kunst, Tanz und Performance zeigt die Ausstellung auch eine Reihe historischer Dokumente, Referenzen und Werke von Daniel Chodowiecki bis Aby Warburg.

Zur Ausstellung ist ein Reader erschienen

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