Vagabundenkongress, 1929, Stutttgart
Ausstellung zum Vagabundenkongress, 1929, Stutttgart
Aufruf zum Generakstreik während des Vagabundenkongresses, 1929, Stutttgart
Cover des Ausstellungkatalogs "Wohnsitz: Nirgendwo. Vom Leben und vom Überleben auf der Straße", hrsg. von Künstlerhaus Bethanien, Berlin 1982
Poster, Vagabundenkongress, Theater Rampe, Stuttgart, 2014
Der Kunde. Zeit– und Streitschrift der Vagabunden, 1929, Cover
Hans Tombrock, "Vagabunden", 1928, Mappe mit 15 Zeichnungen, Verlag der Vagabunden, Stuttgart-Degerloch, Courtesy: Privatsammlung

Actually, the Dead Are Not Dead. Una forma de Ser

VAGABUNDENKONGRESS STUTTGART
21. bis 23. Mai 1929, Freidenker-Jugendgarten, Killesberg

Zu Pfingsten 1929 fand auf dem Killesberg in Stuttgart, ganz in der Nähe der zwei Jahre zuvor errichteten Weißenhofsiedlung, jenem Aushängeschild des "neuen Bauens", der erste internationale Vagabundenkongress statt, eine politische Zusammenkunft von Wohnungs- und Arbeitslosen. Aufgerufen dazu hatte Gregor Gog, der sich bereits zuvor in verschiedenen Reden und Artikeln für eine Politisierung der auf der Straße lebenden Menschen ausgesprochen, 1928 die Bruderschaft der Vagabunden gegründet und im selben Jahr die Schriftleitung der Zeit- und Streitschrift Der Kunde übernommen hatte. "Kunde" war damals eine Selbstbezeichnung von auf der Straße lebenden, wandernden Wohnungslosen.

Sowohl die Zeitschrift Der Kunde als auch der Stuttgarter Vagabundenkongress, der von einer Radiosendung und einer Kunstausstellung begleitet wurde, sollten die Ideen und Forderungen der Bruderschaft der Vagabunden publik machen und ihr Netzwerk entscheidend vergrößern.

Die Zielgruppe waren Personenkreise, die aus höchst unterschiedlichen Gründen auf der Straße lebten: Neben Arbeitslosen, Wanderarbeiter*innen, Kriegsversehrten und Personen aus diversen marginalisierten Gruppen auch Jugendbewegte, Wanderprediger*innen, Lebensreformer*innen, Anarchist*innen, akademisch gebildete Verweiger*innen der bürgerlichen Gesellschaft und Künstler*innen. Es handelte sich um Vertreter*innen jenes Standes, den Karl Marx und Friedrich Engels verächtlich als das Lumpenproletariat bezeichneten und dem sie unterstellten, arbeitsscheu, unzuverlässig und reaktionär zu sein. „Das Lumpenproletariat, dieser Abhub der verkommenen Subjekte aller Klassen … ist von allen möglichen Bundesgenossen der schlimmste“, heißt es bei Engels in Der deutsche Bauernkrieg (1870). „Dies Gesindel ist absolut käuflich …“.

Demgegenüber forderten Gog und seine Anhänger*innen, Lohnarbeit bewusst zu verweigern und die Straße der Fabrik vorzuziehen, um sich effektiv gegen das ausbeuterische System des Kapitalismus zur Wehr zu setzen und es zu Fall zu bringen. „Generalstreik ein Leben lang!“ so die Devise des Vagabundenkongresses.

Während die Stuttgarter Behörden alles daran setzten, die Außenwirkung des Kongresses so gering wie möglich zu halten – es heißt sogar, dass sie im Vorfeld die Falschmeldung verbreiteten, der Kongress sei abgesagt worden – folgten über 500 Kund*innen dem Aufruf sowie zahlreiche Vertreter*innen der Presse aus dem In- und Ausland.

In den Reden, Gedichten und Liedern, die auf dem Treffen zu hören waren, wurde für ein besseres Verständnis von und die Anerkennung der Kund*innen geworben. Ihre Not war ebenso Thema wie der euphorische Aufruf, eine Massenbewegung der Verweigerer zu bilden. Vagabondage als Lebensprinzip.

Auch wenn der Stuttgarter Vagabundenkongress keine direkten Einflüsse auf die Parteipolitik hatte, so stärkte er doch den Zusammenhalt und die Politisierung einiger Kund*innen.

1982 konzipierte Michael Haerdter für das Künstlerhaus Bethanien in Berlin die Ausstellung Wohnsitz: Nirgendwo. Vom Leben und vom Überleben auf der Straße, die sich mit Wohnungslosigkeit in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert beschäftigte. Der Stuttgarter Vagabundenkongress von 1929 sowie die von Gregor Gog gegründete Bruderschaft der Vagabunden wurden darin ausführlich behandelt.
Nach Berlin wanderte die Ausstellung in den Württembergischen Kunstverein Stuttgart, nach Amsterdam (deMeervaart), Dortmund (Museum am Ostwall), Bielefeld (Kulturamt im Assapheum Bethel) und Düsseldorf (Landesmuseum Volk und Wirtschaft).
2014 veranstaltete das Stuttgarter Theater Rampe ein Reenactment des Vagabundenkongresses.

Der Kunde. Zeit- und Streitschrift der Vagabunden, 1929
Die erste Straßenzeitung Europas, Der Kunde, wurde 1927 von dem Schriftsteller und Landstreicher Gustav Brügel gegründet. Bereits die erste Ausgabe wurde beschlagnahmt, da sie eine Erzählung über homosexuelle Liebe enthielt. Brügel verließ Deutschland daraufhin. Ab 1928 übernahm Gregor Gog die Herausgabe der Zeit- und Streitschrift der Vagabunden, die bis 1931 erscheinen sollte. Jede Ausgabe enthält eine Mischung aus Gedichten, Zeichnungen, politischen Aufsätzen und literarischen Texten.
Während Gog auf dem Vagabundenkongress 1929 in Stuttgart noch als Anarchist vor jeglicher Vereinnahmung der Bruderschaft der Vagabunden durch die kommunistische Partei warnte, kehrt er nach einem Aufenthalt in der Sowjetunion 1930 als überzeugter Kommunist zurück, trat der KP bei und stellte sein Engagement für die Vagabund*innen von nun an in den Dienst des kommunistischen Kampfes. Dies schlägt sich auch in der Zeitschrift nieder, die er 1931 in Der Vagabund (in Abgrenzung vom herkömmlichen Kunden) umbenennt. Das Cover wird neu und nach den Prinzipien der avantgardistischen Fotocollage gestaltet. Erklärtes Ziel von Gog ist es, die „Vagabunden in eine Reservearmee des Proletariats zu verwandeln.” Beispielhaft hierfür ist der Abdruck von Maxim Gorkis Aufruf An die Vagabunden Deutschlands und der anderen Länder im Heft 3 von 1931.

Generalstreik das Leben lang! Lebenslänglich Generalstreik!
Aufruf Kongress der Vagabunden 1929 Stuttgart

"Die Gesellschaft, vertreten durch ihre Behörden, spricht von ihrer Fürsorge. Das Gesetz sorgt für sich, für die Gesellschaft, für die Satten, damit die Opfer ihrer Tyrannis ihnen nicht nahe an den Leib rücken. Ihre ‚Fürsorge’ ist Polizistenhumanität! Ist ‚Vorsorge’! Sie treiben ‚Fürsorge’, d.h. treffen Vorsorge, dass ihre Türme nicht umfliegen, durch die sie aus der irdischen Welt eine einzige große Kaserne machen. Die tugendfreien Spießer sprechen von den Vagabunden als einem arbeitsscheuen Gesindel. Was weiß diese Gesellschaft vom Weg und Ziel der Landstraße?
Am Anfang jeden wesentlichen Werkes steht die Erkenntnis von den Dingen. Der Kunde, der Vagabund aber ist es, der auszieht, sie zu bringen! Seine Aufgabe ist in dieser Welt nicht die spießbürgerliche Arbeit. Diese Arbeit wäre Mithilfe zur weiteren Versklavung, wäre Arbeit an der bürgerlichen Hölle! Sklavendienst zum Schutze und zur Erhaltung der Unterdrücker! Der Kunde, revolutionärer als Kämpfer, hat die volle Entscheidung getroffen:
Generalstreik das Leben lang! Lebenslänglich Generalstreik!
Nur durch einen solchen Generalstreik ist es möglich, die kapitalistische, ‚christlich’ kerkerbauende Gesellschaft ins Wackeln, ins Wanken, zu Fall zu bringen!"

Jo Mihàly
(1902, Schneidemühl, Polen – 1989, Seeshaupt, Deutschland)

Die Tänzerin, Schauspielerin, Dichterin und Autorin Jo Mihàly zählte zu den wenigen aktiven Frauen der Bruderschaft der Vagabunden. Nach Auftritten in Varietés und im Zirkus sowie Engagements an verschiedenen Theatern, darunter die Volksbühne Berlin, lebte sie in den 1920er-Jahren für einige Zeit auf der Straße. Sie lernte Gregor Gog 1927 kennen, schrieb verschiedene Texte und Gedichte für die Zeitschrift Der Kunde und veröffentlichte 1929 in Gogs Verlag der Vagabunden die Ballade vom Elend. Mihàly setzte sich besonders für die Rechte der Sinti*zze und Rom*nja ein, veröffentlichte dazu verschiedene Texte und Gedichte sowie den Roman Hüter des Bruders (1942, später unter dem Titel Gesucht: Stepan Varesku) und das Kinderbuch Michael Arpad und sein Kind. Kinderschicksal auf der Landstraße (1930), das mit eigenen Zeichnungen Mihàlys versehen ist. Trotz aller guten Absichten reproduziert Mihàly eine Reihe von Sinti*zze- und Rom*nja-Klischees.

Hans Tombrock
geboren 1895 in Dortmund, Deutschland, gestorben 1966, Stuttgart, Deutschland

Der autodidaktische Maler und Zeichner Hans Tombrock lebte nach einer längeren Haftstrafe und einem bereits bewegten Leben ab 1924 für einige Jahre auf der Straße. 1928 lernte er Gregor Gog kennen und gehörte bald zu dessen engstem Kreis. Er zeichnete unter anderem für die Zeitschrift Der Kunde, war einer der Redner auf dem Stuttgarter Vagabundenkongress und nahm an der parallel dazu stattfinden Ausstellung teil.
1928 veröffentliche Gogs Verlag der Vagabunden eine Mappe mit 15 Zeichnungen des Künstlers. 1939 lernte Tombrock Bertolt Brecht kennen, mit dem er an verschiedenen Projekten zusammenarbeitete.

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