Open House: Kunstgebäude Stuttgart

Ansätze eines Raumnutzungsmodells für pandemische Zeiten

STATEMENT

Die derzeitige Schließung von Museen, Kunstvereinen, Theatern, Konzertsälen und Opernhäusern als im Zweifelsfall verzichtbare Orte des sozialen Austauschs zeigt erneut, dass diese Institutionen auf politischer Ebene noch immer nicht als Bildungseinrichtungen verstanden werden. Es geht aber um sehr viel mehr: Um die Notwendigkeit, für die kommenden Wochen und Monate der Pandemie Räume vorzuhalten, in denen sich Menschen sicher begegnen und Erfahrungen teilen können. Denn das ist unverzichtbar.

Kulturinstitutionen sind sichere Orte. Sie haben ihre Räume, Infrastrukturen und Logistik mit viel Aufwand an die derzeitige Situation angepasst. Längst sammeln sie die Daten ihrer Besucher*innen, das heißt eine mögliche Infektionskette ließe sich hier besonders gut nachvollziehen. Die zu 75 % ungeklärten Ansteckungswege dürften kaum auf sie zurückzuführen sein, da man dies hätte nachweisen können.

Kulturinstitutionen sollten ihren Betrieb deshalb so schnell wie möglich wieder aufnehmen dürfen: sowohl im Hinblick auf ihre eigenen Programme als auch bezüglich ihrer Potentiale, Raum und Infrastrukturen zu teilen.

Die Öffnung dieser Häuser im Sinne der Koexistenz mit anderen Bereichen des öffentlichen Lebens ist nicht nur Voraussetzung für die derzeit gebotene Solidarität, sondern birgt auch neue ungeahnte Formen des Austauschs zwischen sozial diversen Gruppen, wie es ein Modellversuch des Württembergischen Kunstvereins im Stuttgarter Kunstgebäude seit Juli diesen Jahres gezeigt hat: ein Projekt, das vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst des Landes Baden-Württemberg unterstützt wurde, und im Folgenden vorgestellt wird.

Das Open House im Kunstgebäude soll spätestens nach dem 31. Dezember 2020 beendet werden, um mit der anstehenden Sanierung des Altbaus beginnen zu können. Gerade angesichts der derzeitigen Zuspitzung der Pandemie, bei der jeder frei verfügbare sichere Ort der zwischenmenschlichen Begegnung zählt, halten wir dies für kontraproduktiv.

Wir schlagen stattdessen vor, auf der Basis eines breiten institutionellen Netzwerks neue Formen lokaler und regionaler Koexistenzen, des Teilens von Raum und Infrastrukturen zu entwickeln: auch, aber nicht nur im Hinblick auf Schulen. Der Altbau des Stuttgarter Kunstgebäudes mit seinem großzügigen, pandemietauglichen Raumangebot könnte und sollte dabei eine wichtige Plattform sein.

Die Lösung kann nicht darin bestehen, den Betrieb von Museen oder Theatern einzustellen, um stattdessen Schulen oder andere Strukturen dorthin zu verlagern. Es geht vielmehr darum, sich auf ungewohnte neue Formen des Zusammenlebens einzulassen: auch, um einer Bildungsarbeit Vorschub zu leisten, deren Bildungsbegriff die Künste und andere Lebensbereiche einschließt.

OPEN HOUSE: KUNSTGEBÄUDE STUTTGART

Initiative, Koordination und Verantwortung
Württembergischer Kunstverein Stuttgart
In Zusammenarbeit mit
Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst des Landes Baden-Württemberg

1.7.2020 – (voraussichtlich) 31.12.2020

Einführung
Seit Juli 2020 öffnet der Württembergische Kunstverein die ca. 1.500 m2 umfassenden Räume des Altbaus im Kunstgebäude am Stuttgarter Schlossplatz für unterschiedliche Nutzungen: für Hochschulen ebenso wie für verschiedene zivilgesellschaftliche Gruppierungen, Aktivist*innen, migrantische Vereine und Bündnisse, Kunstarbeiter*innen, Jugendverbände, Sprachkurse, Projekte von Studierenden und mehr.

Hintergrund war und ist der durch die Corona-Pandemie bedingte gestiegene Bedarf an Räumen, die aufgrund ihrer Größe und Infrastrukturen wie Klimaanlagen und Luftfilterung die Begegnung von Menschen auch in größeren Gruppen erlauben. Denn die Kommunikation über Onlinemedien ist längst an ihre Grenzen gestoßen.

Möglich wurde dieses temporäre Open House dank der Unterstützung des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst (MWK) des Landes Baden-Württemberg und durch die Tatsache, dass der Altbau des Kunstgebäudes, für dessen Nutzung das MWK bis zum 30. Oktober 2020 zuständig war, aufgrund einer anstehenden Sanierung derzeit leer steht.

Der Württembergische Kunstverein, der den Neubau des Kunstgebäudes bespielt und bis vor Kurzem das gesamte Gebäude technisch betreut hat, verfügt über Wissen und Erfahrungen in und mit diesem Haus, die über Jahrzehnte gewachsen sind. Er ist in der Lage, kurzfristig Infrastrukturen für verschiedenste Nutzungen bereitzustellen und hat ein Hygienekonzept entwickelt, das auch die Begegnung mit sogenannten Risikogruppen erlaubt. Der große hohe Kuppelsaal lässt Veranstaltungen mit bis zu 60 Personen bei genügend Abstand zu, die Galerieräume eignen sich für Ausstellungen, Proben und Workshops in kleineren Gruppen.

Unter den genannten Voraussetzungen konnte im Juli 2020 die erste Präsenzlehre einer Hochschule in Baden-Württemberg während der Pandemie durchgeführt werden. Seit Mitte Juli fanden im Schnitt an jedem zweiten Tag öffentliche sowie nicht-öffentliche Treffen statt. All diese Zusammenkünfte hätte es unter den geltenden Pandemie-Auflagen ohne die räumlichen Möglichkeiten im Kunstgebäude nicht gegeben. Darüber hinaus wurde und wird die Kuppel tagsüber auch von Einzelpersonen regelmäßig als sichere Alternative zum Homeoffice genutzt.

Der Württembergische Kunstverein stellt seine eigenen Räumlichkeiten und Infrastrukturen, insbesondere den sogenannten Glastrakt, bereits seit 2012 diversen Gruppen zur freien Nutzung zur Verfügung. Mit der temporären Öffnung des Altbaus konnte das Raumangebot am Schlossplatz erheblich erweitert werden.

Die verschiedenen Raumsegmente wurden und werden für nicht-kommerzielle Nutzungen auf Anfrage mietfrei vergeben. So kommt bei Einhaltung aller Hygienevorgaben eine äußerst heterogene Dichte an Aktivitäten zustande. Durch die oftmals parallel stattfindenden Veranstaltungen und Treffen kreuzen sich – bei genügend Abstand – die Wege von Gruppen, die sich im Alltag eher nicht begegnen. Ein Aspekt, den man mit mehr Zeit noch verstärken könnte.

Die bisherigen Nutzer*innen
Professor*innen und Dozent*innen der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe, der Staatlichen Akademie der bildenden Künste Stuttgart, der Universität Stuttgart und der Staatlichen Hochschule für Musik und darstellende Kunst Stuttgart führen ihre Seminare und Vorlesungen seit Juli 2020 in der Kuppel des Kunstgebäudes durch. Nach Wochen der Onlinekommunikation wurde die Möglichkeit der Präsenzlehre sehr begrüßt.  

Die Studierenden verschiedener Hochschulen nutzten das gesamte Gebäude für alternative Lehr- und Aktionsformen: von einem öffentlichen Picknick über die Diplomausstellung der Stuttgarter Kunstakademie, die sonst ausgefallen wäre, bis zu dem einwöchigen institutionskritischen Gegencampus bond_ASAP. School of 2020. Die Auseinandersetzung mit Strukturen von institutioneller Macht und Gewalt und deren Wirksamkeiten gerade während der Pandemie war dabei ein zentrales Thema.

Gruppen, die sich wie Alles für die Crew, ein Kollektiv von Arbeitnehmer*innen der Veranstaltungsbranche, mit den pandemiebedingten Problemen von Kunst- und Kulturarbeiter*innen beschäftigen, nutzten das Raumangebot, ebenso wie der Stuttgarter Jugendverband, der seinen Klausurtag hier in physischer Anwesenheit der Teilnehmer*innen durchführen konnte.

Migrantifa, Fridays For Future, die Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland, das Forum der Kulturen und andere Gruppen setzten sich insbesondere nach den Erfahrungen der sogenannten Stuttgarter Krawallnacht in Arbeits-, Aktions- und öffentlichen Treffen mit Problemen des Racial Profiling und des strukturellen Rassismus in Stuttgart auseinander. Die so entstanden Foren bildeten und bilden ein unentbehrliches Gegengewicht zum vorherrschenden Diskurs der Stadtpolitik. Gerade hier zeigte sich, wie dringlich es ist, auch unter Pandemiebedingungen Raum für sozialen Austausch zu schaffen.

Vom Stuttgarter Bürgerchor über Suono Mobile – Initiative für Neuen Musik bis zum Projekt Die irritierte Stadt, das in Kooperation zahlreicher lokaler Institutionen, darunter das Theater Rampe, durchgeführt wurde, konnte das Kunstgebäude als Proberaum und / oder Bühne genutzt werden.  

Der Verein Arabischer Studenten und Akademiker Tübingen zeigte in der Kuppel Teile seines dezentralen Arabischen Filmfestivals und das noch junge tunesische Gabès Filmfestival stellte eine von Negar Tahsili kuratierte Auswahl neuer tunesischer Filme vor.

Nicht zuletzt haben die zahlreichen Performances von Künstler*innen wie Arash Fayez oder Jeremy Wade vor Ort gezeigt, welche immense Bedeutung die direkte und gemeinsame Erfahrung von Kunst und Kultur hat.

Seit dem 1. November 2020 musste aufgrund der aktuellen Corona-Verordnungen ein Gros der Aktivitäten abgesagt werden, nur theoretische Weiterbildungsveranstaltungen sind noch erlaubt.

Statt Schließung sichere Öffnung und Koexistenz
Wir müssen lernen, mit der Pandemie zu leben, da sie uns noch viele Monate begleiten wird: Monate, in denen wir das öffentliche Leben nicht allein auf den Konsum reduzieren können.

Ausstellungshäuser und Bühnen nehmen die Pandemie und Gefährlichkeit von Covid-19 äußerst ernst. Deshalb haben sie in den vergangenen Monaten und Wochen – auch dank der Förderung durch die öffentliche Hand – ihre Räume, Infrastrukturen und Logistik mit viel Aufwand, Sorge und Kreativität an die derzeitige Situation angepasst, so dass sie eine sichere Begegnung von Menschen in größeren Gruppen erlauben.

Statt diese Institutionen zu schließen, sollten ihre Potentiale für neue Formen der Koexistenz verschiedener Bereiche des öffentlichen Lebens gerade in der Ausnahmesituation der Pandemie genutzt werden. Neben ihren eigenen Programmen könnten sie ihre sicheren, pandemietauglichen Räume auch für andere Nutzer*innen – Schulen, Vereine, Initiativen – öffnen: im Idealfall im Verbund mit anderen Häusern.

Die Lösung kann nicht darin bestehen, den Betrieb von Museen oder Theatern einzustellen, um stattdessen Schulen oder andere Strukturen dorthin zu verlagern. Es geht vielmehr darum, sich auf ungewohnte neue Formen des Zusammenlebens einzulassen: auch, um einer Bildungsarbeit Vorschub zu leisten, deren Bildungsbegriff die Künste und andere Lebensbereiche einschließt.

In Stuttgart sollte dabei ein so großzügiger Raum, wie ihn der leerstehende Altbau im Kunstgebäude bietet, gerade während der sich zuspitzenden Pandemie nicht verspielt werden.




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