200 Jahre Gegenwart. Konstellation 2: Der Kunstverein und die ungelösten Probleme der bürgerlichen Gesellschaft

24. Mai – 3. August 2025

mit Werken und Editionen von
AG Retrograde Strategien, Daniel García Andújar, Ricardo Basbaum, Herbert Bayer, Lídia Chaves, Daniel Chodowiecki, Bruno Demattio, Yvonne P. Doderer, Stan Douglas, W.E.B. Du Bois, Luise Duttenhofer, Mina Gampel, Till Gathmann, HAP Grieshaber, John Hillard, Christoph Irrgang, Vika Kirchenbauer, Ferdinand Kriwet, Muntadas, Suntag Noh, Anna Oppermann, Dan Perjovschi, Walter Renz, José Alejandro Restrepo, Hank Willis Thomas, hermann de vries und anderen

Ausführlicher Reader (41 Seiten)

reader_200Jahre_konst_2_de_2025_06.pdf

Daniel García Andújar, Cancel Culture, 2023–2025
W. E. B. Du Bois, Visualizing Black America, 1900
Luise Duttenhofer, Goethe in Stuttgart (mit Gottlob Heinrich Rapp), 1797
Mina Gampel, Eduard Pfeiffer, 2022
Christoph Irrgang, Ohne Titel (Hermannsdenkmal), 1992
Vika Kirchenbauer, Compassion and Inconvenience, 2024, Courtesy: Vika Kirchenbauer / VG Bild-Kunst
Anna Oppermann, Besinnungsobjekte über das Thema Verehrung. Anlass: Goethe, 1981–1984, Courtesy: Estate Anna Oppermann
Walter Renz, Cannstatter Volksfest, 1936
José Alejandro Restrepo, Quindío Pass II, 1998
Hank Willis Thomas, Colonialism and Abstract Art, 2019

Einführung

2027 jährt sich die Gründung des Württembergischen Kunstvereins (WKV) zum 200. Mal. Auf dem Weg dorthin geht der WKV in einem zweijährigen offenen Prozess drei zentralen Ideen, die mit der Entstehung von Kunstvereinen zu Beginn des 19. Jahrhunderts eng verwoben sind, aus heutiger und kritischer Sicht nach: der Konstitution des (weißen, männlichen) Bürgers als Souverän; der Freiheit der Kunst und der Nationenbildung. Die lokalen Besonderheiten und konkreten Entwicklungen des WKV werden dabei in ihren globalen Verschränkungen reflektiert. Lineare Zeitkonzepte sollen bewusst durchbrochen werden. Geplant ist eine Ausstellungsreihe, die in vier Konstellationen mögliche Anschlüsse zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft reflektiert. Die vier Konstellationen sind als offene Arrangements zwischen Ausstellung, Archiv und Werkstatt angelegt. Sie sind im Wesentlichen geprägt vom Suchen, Sichten, Hinterfragen, von Lücken, Unerwartetem, Vorläufigem und neuen Fragen.

Konstellation 2: … und die ungelösten Probleme der bürgerlichen Gesellschaft
In den beinah 200 Jahren seit Gründung des WKV hat es zahlreiche politische, gesellschaftliche, ökonomische, technologische und kulturelle Umbrüche gegeben. Auch die heutige Gegenwart ist von Krisen und komplexen Gemengelagen durchzogen, die sich aus diesen Entwicklungen ergeben. Sie wird gleichermaßen von den Gespenstern der Vergangenheit und der Zukunft eingeholt: Kolonialismus, Faschismus, Kriege, Autoritarismus, Klimakollaps, soziale Ungerechtigkeit … 

All dies sind Zusammenhänge, die – in der einen oder anderen Form – die Arbeit und die Strukturen des WKV betroffen haben und weiterhin beschäftigen werden. Konstellation 2 des 200-Jahre-Projektes, die als eine Erweiterung und Rekombination der vorangegangenen Ausstellung konzipiert wurde, setzt hier an. Es sind unter andere zahlreiche neue Werke zeitgenössischer Künstler*innen hinzugekommen.

Struktur

Die Ausstellung setzt sich aus drei Strängen zusammen: einer offenen Folge von Bild-Text-Tableaus, in denen historische Kontexte und Figuren des WKV aufgegriffen und quergelesen werden; einer Auswahl von Editionen, Ausstellungsplakaten und -dokumenten zu wiederkehrenden gesellschaftspolitischen Anliegen des WKV seit 1946; sowie zahlreichen Werken zeitgenössischer Künstler*innen, die um verschiedene Aspekte der Konstitution des Bürgers als Souverän – und um deren Folgen – kreisen. Darüber hinaus umfasst die Ausstellung eine wachsende Präsenzbibliothek mit den Katalogen des WKV, Büchern zur Stadtgeschichte sowie zu den verschiedenen Themen des Projektes und deren aktuellen Dringlichkeiten und Konfliktfeldern.

Werke zeitgenössischer Künstler*innen

Zu den Werken zeitgenössischer Künstler*innen zählen die Videoinstallationen von Vika Kirchenbauer und José Alejandro Restrepo, die sich mit den kolonialen Verflechtungen des europäischen Bildungs- und Besitzbürgertums beschäftigen. Kirchenbauer nimmt in ihrer essayistisch-performativen Videoarbeit Compassion and Inconvenience (2024) die klassistischen, kapitalistischen und kolonialen Ursprünge öffentlicher europäischer Kunstinstitutionen am Beispiel Großbritanniens in den Blick. Restrepo geht in Quindío Pass II (1998) ausgehend von Figuren wie Alexander von Humboldt und Christian Duttenhofer den kolonialen Strukturen und Repräsentationen der europäischen Kunst- und Wissenschaftsgeschichte nach. Im Mittelpunkt steht dabei die Figur des indigenen Trägers, der den Kolonialherren durch die „Wildnis“ befördert: als koloniale Allegorie der Machtlosigkeit – und ihrer potenziellen Umkehrbarkeit. Restrepos Werk ist eng mit der lokalen Geschichte Stuttgarts verknüpft: Sowohl Duttenhofer als auch Johann Friedrich Cotta, der zentrale Schriften von Humboldts verlegte, gehörten zur kulturellen Elite der Stadt und zählten zu den Gründungsmitgliedern des WKV.
Einen konkreten Bezug zur Kolonialgeschichte Stuttgarts stellt die Wandgravur von Lídia Chaves her. Dabei handelt es sich um die Weiterentwicklung einer öffentlichen Intervention, die die Künstlerin 2023 am historischen Ort der Stuttgarter Kolonialausstellung von 1928 im Stadtgarten realisierte.

Diagramme und Statistiken sind zentrale Instrumente der westlichen Erkenntnis- und Wissenschaftsgeschichte, die Wirklichkeit nicht einfach abbilden, sondern vielmehr konstruieren. Die 63 heute ikonischen Tafeln, die W.E.B. Du Bois für die Pariser Weltausstellung von 1900 anfertigte, machten die damaligen Lebensrealitäten von Afroamerikaner*innen erstmals jenseits rassistischer Zuschreibungen einer breiten Öffentlichkeit zugänglich. Zugleich überwanden sie die Darstellungskonventionen europäischer Statistik und Verwaltungsgrafik.
Hank Willis Thomas’ Diagramm Colonialism and Abstract Art führt – in kritischer Aneignung von Alfred H. Barrs Cubism and Abstract Art (1936, Museum of Modern Art, New York) – die komplexen geopolitischen und ökonomischen Verflechtungen zwischen moderner Kunst, Kapitalismus und Kolonialismus vor Augen.
Auch das im Rahmen der Ausstellung 50 Jahre nach 50 Jahre Bauhaus (2018, WKV) von Yvonne P. Doderer entwickelte Diagramm überfordert die Funktionalität klassischer Wissenschaftsgrafik durch Komplexität. Ausgangspunkt sind dabei die in den urbanen Strukturen Stuttgarts sichtbaren Kontinuitäten des NS-Regimes.
Daniel García Andújar macht in seiner KI-generierten Arbeit Cancel Culture (2025), die auf architektonischen Daten zur Geschichte des WKV beruht, wiederum sichtbar, welche Restriktionen und Stereotypen in Technologien fortwirken, die auf statistischen Auswertungen basieren.

Auch der Künstler Walter Renz (1908–1998) nimmt in seinen Werken direkten Bezug auf Stuttgart. Seine nüchternen und zugleich einfühlsamen Fotografien, die erstmals seit den 1980er Jahren wieder in größerem Umfang zu sehen sind, geben Einblicke in urbane Situationen der Vor- und Nachkriegszeit dieser Stadt. Häufiges Motiv sind dabei das Cannstatter Volksfest sowie die Trümmer nach dem Zweiten Weltkrieg. In den 1950er Jahren war Renz Mitglied im Künstlerischen Beirat des WKV. Die Malerin Mina Gampel zeigt Porträts zentraler Persönlichkeiten des wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und jüdischen Lebens in Stuttgart, die mit der Geschichte der WKV verbunden sind.

1982 präsentierte Anna Oppermann im Kuppelsaal des WKV ein raumgreifendes Ensemble, das die Verehrung Goethes durch das Bildungsbürgertum befragt. Die Ausstellung zeigt vier Fotoleinwände aus diesem Ensemble, in denen insbesondere das Verhältnis des Dichters zu Frauen thematisiert wird. Bereits zu Goethes Lebzeiten kommentierte die Stuttgarter Künstlerin Luise Duttenhofer den Kult um seine Person mit einem ironischen Scherenschnitt. In weiteren ausgestellten Werken setzt sie sich kritisch mit den Gepflogenheiten der damaligen kulturellen Eliten und deren Ausschluss von Frauen auseinander.

Christoph Irrgang verweist in seiner Schwarzweiß-Fotoserie auf ein deutsches Monument, das, neben Goethe und Schiller, den Grimms oder der Sammlung Boisserée, zentral für das Projekt der Nationenbildung im 19. Jahrhundert war: Das Hermannsdenkmal im Teutoburger Wald. Nationalismus, wie ihn eine deutsche Partei, die vom Bundesamt für Verfassungsschutz als „gesichert rechtsextremistisch“ eingestuft wird, derzeit wiederaufleben lässt, hat Dan Perjovschi in einer Serie von Zeichnungen kommentiert.

Weitere Elemente

Luise Duttenhofer zählt, neben diversen Gründungs- und Gremienmitgliedern des WKV wie Gottlob Heinrich Rapp, Johann Friedrich Cotta oder Eduard Pfeiffer, zu den zentralen Protagonist*innen der Bild-Text-Tafeln. Diese befassen sich mit Fragen zur Konstitution des Bürgertums, zur künstlerischen Freiheit und Zensur sowie zu den Verflechtungen des WKV mit Kolonialismus und Nationalsozialismus.

Eine Sektion mit Plakaten und weiteren Dokumenten ist Alice Widensohler gewidmet: der ersten Frau, die an der Spitze des WKV stand, diesen nach dem 2. Weltkrieg neu positionierte und auch andere lokale Sammlungen prägte.

Angesichts der aktuellen Kontroversen, in deren Zuge die Freiheitsrechte von Kunst, Wissenschaft und Bildung zunehmend eingeschränkt werden – Rechte, die sich zur Zeit der Gründung des WKV erst allmählich herauszubilden begannen –, wurde für die Ausstellung eine offene, wachsende Bibliothek eingerichtet. Sie bewegt sich thematisch entlang historischer und gegenwärtiger Konfliktfelder.
Die modernen Konzepte von Freiheit und Autonomie, die seit dem 19. Jahrhundert immer wieder neu und aus verschiedenen Perspektiven erstritten und erkämpft werden müssen, sollen gewährleisten, dass unter anderem politische und gesellschaftliche Auseinandersetzungen in Kunst und Wissenschaft frei von staatlicher Zensur geführt werden können. Gerade in Zeiten globaler Krisen sollten Kunst-, Wissenschafts- und Meinungsfreiheit als zentrale gesellschaftliche Güter von Staat und Politik anerkannt und gestärkt werden. Stattdessen zielen diverse Bundestagsresolutionen und willkürliche Definitionen von Staatsräson darauf ab, das Recht auf Freiheit (und Asyl) erheblich zu beschneiden. Formen zivilen Ungehorsams werden zunehmend kriminalisiert. Mit dieser Bibliothek – trotz und gerade wegen ihrer Lücken – möchten wir Impulse für offene wie zukünftige Debatten geben. Parallel dazu sollen verschiedene Lesegruppen entstehen.

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