Werke

Valérie Jouve, Grand Littoral, 2003
Dominic McGill, Project for a New American Century, 2003
Chris Welsby, Wind Vane,1972
Ceal Floyer, Warning Birds, 2002, Courtesy Ceal Floyer und Lisson Gallery, London
Emily Richardson, Aspect, 2004
Seth Price, Romance, 2003, Courtesy Electronic Arts Intermix, New York
Kollektive Aktionen, Erscheinung,1976
Sun Tag NOH, The StrAnge Ball, 2004
John Pilson, Misty Harbor, 2002, Courtesy Galerie Zink, München/Berlin
Sean Snyder, A Revisionist Model of Solidarity, 2004-2005

Valérie Jouve, Grand Littoral
Video, 2003

Grand Littoral ist in dem gleichnamigen Außenbezirk von Marseille angesiedelt, der zugleich Standort eines großen Einkaufszentrums ist. Vor dem Hintergrund dieser suburbanen Landschaft, die sich durch eine karge Vegetation, Ausblicke auf Hochhaussiedlungen, Stadtautobahnen und Supermarkt-Parkplätze, demonstrativ als Nicht-Ort zu erkennen gibt, folgt die Kamera einigen Personen. Allein oder in kleinen Gruppen bewegen sie sich in dieser Landschaft, ohne dass Ziel oder Anlass ihres Tuns erkennbar wären. Einige von ihnen treffen aufeinander, andere begegnen sich, ohne Notiz voneinander zu nehmen, oder gehen schlicht allein ihrer Wege. Trotz aller Beiläufigkeit scheinen alle ihre Bewegungen jedoch einer losen Choreographie zu folgen: Der Stadtrand wird hier zur zeit- und ortlosen Bühne, auf der sich minimale Narrationen mit je eigener Dynamik, Richtung und Dramaturgie entfalten. Die Personen werden zu Akteuren, ihre Bewegungslinien zu Erzählsträngen, die sich punktuell kreuzen. Gran Littoral erscheint so als Genrehybrid, der zwischen Landschaft und Porträt in der Schwebe bleibt.

Dominic McGill, Project for a New American Century
Zeichnung, 2003

Dominic McGills Arbeit, deren Titel den Namen eines Think Tank der US-amerikanischen Republikanischen Partei zitiert, ist eine ebenso kritische wie in der Form polemische Auseinandersetzung mit der Geschichte des späten 20. Jahrhunderts. Von durchaus plakativen Dimensionen und mit einer entsprechend expressiven Geste umgesetzt, ist diese etwa 2 x 20 Meter große, von der Decke hängende Zeichnung eine Chronik der Kriege und Skandale, Triumphe und Entdeckungen, Verschwörungen und Katastrophen seit dem Atombombenabwurf auf Hiroshima. Die Arbeit verbindet Schrift und Bild - wild wuchernde Typographien, comicartig reduzierte oder hyperrealistische Zeichnungen, Slogans in Sprechblasen und Diagramme -, um nicht nur die Diachronie der Ereignisse aufzuführen, sondern auch ihre gegenseitigen Bezüge und Abhängigkeiten. Es entsteht eine Art politischer Landschaft in der Zeit, in der das Einzelereignis in seiner fatalen Verstrickung in den «ganzen Rest» erscheint.

Chris Welsby, Wind Vane
16mm-Doppelprojektion, 1972

Die Doppelprojektion zeigt Aufnahmen aus Hampstead Heath in London. Zwei 16mm-Kameras wurden hierfür auf Stative mit Windradaufsätzen montiert und in einigem Abstand zueinander im Park aufgestellt. Sie bewegen sich unabhängig voneinander und ausschließlich gesteuert durch die je herrschenden Windverhältnisse. Im Ausstellungsraum sind zwei simultan von den beiden Kameras aufgezeichnete Filmsequenzen zu sehen.
Die Relation zwischen filmischer Aufzeichnungsapparatur und ihrem Gegenstand wird in dieser Anordnung scheinbar von jeder bewussten Intention entkoppelt und den „Elementen“ bzw. dem Zufall überlassen. Dieser Eindruck einer „nichtinvasiven“ Beobachtung wird jedoch in mehrfacher Hinsicht gebrochen: zunächst durch die sehr wohl kalkulierte Form der Aufzeichnung und Präsentation, wie auch sichtbare Interventionen auf der Bildebene (etwa die Spuren der Montage der Filmstreifen), sowie das automatisch einsetzende Bedürfnis der Betrachter, die Kontingenz der Bilder narrativ zu füllen. Die parallele Projektion zweier inkongruenter Filmsequenzen mit je eigener Dynamik und Perspektive erzeugt so einen Effekt extremer Desorientierung und Fragmentierung, der sich jedem gerichteten Blick auf Landschaft widersetzt.

Ceal Floyer, Warning Birds
Installation, 2002

Ceal Floyer bringt auf der dem Schlossgarten zugewandten Fensterfront des Kunstvereins unzählige Silhouetten von Raubvögeln an - massenproduzierte Piktogramme, wie sie zum Schutz von Singvögeln an Fenstern und spiegelnden Glasfassaden verwendet werden. Durch Floyers Intervention verschiebt sich der Adressat der «Warnung»: Sie richtet sich nach Innen, an den Betrachter. In dieser Umkehrung erzeugt die extreme Häufung der reduzierten Vogeldarstellungen nicht nur einen latent bedrohlichen Zustand zwischen Transparenz und Verdunkelung, sondern ruft darüberhinaus den Vogelschwarm als Kürzel für das Unheimliche schlechthin auf. Damit suspendiert die Arbeit die schützende Distanz zwischen Betrachter und Landschaft, Innen und Außen, und markiert das Eindringen einer bedrohlichen oder „unbestimmten“ Landschaft in den Innenraum.

Emily Richardson, Aspect
16mm Film, 2004

Aspect basiert auf Material, das Emily Richardson im Laufe eines Jahres im Waldgebiet von King's Wood, Großbritannien gefilmt hat. Ähnlich wie in früheren Arbeiten geht Richardson dem Phänomen Licht und seiner Fixierung und Analyse im Medium Film nach. Sie wählt das vornehmlich zu wissenschaftlich-dokumentarischen Zwecken eingesetzte Verfahren der Zeitrafferaufnahme, um die jahreszeitlichen Veränderungen in Vegetation und Landschaft aufzuzeichnen. Dank dieser Technik gelingt es ihr, Lichteffekte festzuhalten, die den Wald gewissermaßen animieren, ihm eine räumliche Tiefe verleihen, in der sich Bildebenen multiplizieren und überlagern. Der Wald selbst wird zur Projektion, die sich auf sich selbst abbildet. Er erscheint surreal, zugleich unheimlich und verklärt. Die analytische Distanz, die das Medium zu erzeugen verspricht, wird somit in ihr Gegenteil gewendet. Die Filmprojektion im Ausstellungsraum verdoppelt schließlich diesen Effekt und verbindet sich mit dem Soundtrack, elektronisch nachbearbeiteten atmosphärischen Sounds, zu einer suggestiven filmischen Komposition.
www.emilyrichardson.org.uk

Seth Price, Romance
Video, 2003

Seth Prices Videoarbeit basiert auf dem Computerspiel Adventure, dem Prototypen der sich später daraus entwickelnden Gattung der „Adventure games“. Adventure ist, im Unterschied zu den aktuellen, aufwändig 3D-animierten Spielen, rein textbasiert, d.h. die gesamte Handlung vollzieht sich in einem schriftlichen Dialog zwischen Apparat und Spieler, als eine relativ schematische Aufeinanderfolge von Ortsbeschreibungen, Aufgaben, Handlungsanweisungen, Fragen und Antworten.
Seth Prices Romance zeigt einen Spieldurchlauf vom Start bis zum „Game over“ und spielt dabei mit der Illusion von Räumlichkeit und Interaktivität. Die Betrachter folgen dem sich scheinbar in Echtzeit vollziehenden Dialog und begeben sich sozusagen in den imaginären Raum von Adventure. Die Tatsache, dass es sich hierbei um einen Text-Raum handelt, ruft auch inhaltliche Referenzen zum Medium Literatur auf: Die im Spiel beschriebenen Szenerien – verfallene Häuser, dunkle Verliese, tote Bäume – scheinen eine literarische Vorlage, nämlich den romantischen Schauerroman und seine unheimlichen Landschaften, zu zitieren. So verknüpft Prices Video mehrere scheinbar inkompatible mediale Raummodelle - die interaktiven „Abenteuer“-Landschaften des Computerspiels, die linearen Texträume der Literatur sowie die Bildwelten des Video – und lässt sie sich gegenseitig spiegeln und kommentieren.

Kollektive Aktionen, Reisen aus der Stadt
Dia-Installation, 1976-2007

Die Moskauer Künstlergruppe Kollektive Aktionen führt seit 1976 in wechselnder Zusammensetzung konzeptuelle Performances in der Peripherie der russischen Hauptstadt auf. Es handelt sich um
minimale, jedoch präzis ausgearbeitete, von der Gruppe oder Einzelpersonen umgesetzte Aktionen auf einem leeren, in der Regel schneebedeckten und von Bäumen begrenzten Feld. Das so definierte "Handlungsfeld" wird zum Schauplatz von Nicht-Ereignissen, bzw. solchen, deren Bedeutung nicht in der Ausführung oder Betrachtung einer bestimmten Handlung besteht, sondern in der Wahrnehmung ihrer Wahrnehmung. Wie etwa in der Aktion Losung 1980, bei der einer der Künstler schriftlich angewiesen wird, am Rande eines Feldes zwischen zwei Bäumen eine verhängte Losung anzubringen, sich dann einige hundert Meter zu entfernen, die Losung durch eine spezielle Konstruktion aus der Distanz zu enthüllen, um dann festzustellen, dass sie aus der Entfernung nicht mehr zu entziffern ist. Die Reise aus der Stadt kulminiert so in der systematischen Verschiebung und Zerstreuung von Sinn.
Die Ausstellung präsentiert eine Auswahl der fotografischen, filmischen und schriftlichen Dokumentation der Aktionen, die, ganz im Sinne einer weiteren Multiplikation und Auflösung der stattgefundenen "Handlungen" als ihre programmatische Fortführung anzusehen sind.

Sun Tag NOH, The StrAnge Ball
18-teilige Fotoserie, 2004

Sun Tag NOHs Fotoserie ist eine Studie des südkoreanischen Dorfs Daechu-ri, wo sich in einer weithin sichtbaren Landmarke die Präsenz der amerikanischen Besatzungsmacht in Korea manifestiert. Es handelt sich um eine kugelförmige Radaranlage, die von der amerikanischen Armee auf dem Gelände ihres Militärstützpunkts Camp Humphrey installiert wurde. Die "seltsame Kugel", deren tatsächliche Bedeutung und Verwendung der Geheimhaltung unterliegt, ist dabei keine abstrakte Bedrohung: Für die Bewohner des Dorfs repräsentiert sie die andauernde Expansion des Militärgeländes, die mit Enteignungen und Vertreibungen der Landbevölkerung einhergeht. Damit wird sie auch zur Zielscheibe der Kritik von Bürgerrechtlern und Aktivisten, die sich für den Abzug der amerikanischen Truppen einsetzen.
Die Fotoserie kreist gewissermaßen um die "Kugel", die sich manchmal organisch in die Landschaft einfügt, oft auch in ihr fast verschwindet, mal wie eine minimalistische Skulptur aus ihr aufragt, erhaben wie ein Himmelskörper oder bedrohlich wie ein Menetekel über ihr schwebt. NOH setzt die Kugel als exponiertes und allgegenwärtiges, zugleich darin aber auch wandelbares und unauffälliges Objekt in Szene. Sie ist eine Art formloser Fremdkörper, der sich in perfekter Mimikry der Landschaft anpasst. Sie markiert einen Verdacht, eine ideologische Besetzung von Raum, aber auch die widerständigen Netzwerke, die sie auf den Plan ruft.

John Pilson, Misty Harbor
4-teilige Fotoserie, 2002

Pilson dokumentiert in seiner Arbeit das Innenleben einer Investmentbank im New Yorker Financial District. Während der Nacht- und Wochenendschichten fotografierte er die fast menschenleeren Büros – eine Art Twilight zone, in der sich scheinbar profane Details zu rätselhaften Szenerien verdichten. Außerhalb der Arbeitsphasen weicht hier die Logik von Produktivität und Effizienz, kollektiver Vision und Corporate Identity einer Atmosphäre der Unbestimmtheit und fast beunruhigenden Intimität. Pilsons entrückte Bürolandschaften und Schreibtischstilleben scheinen so die Tiefenpsychologie eines Unternehmens offenzulegen, dessen globale Operationen und Spekulationen sich ansonsten auf sehr reale Weise in unsere Alltagsräume einschreiben.

Marco Poloni, Displacement Island

69-teilige Fotoserie, 2006

In seiner Fotoserie verbindet Poloni Bilder unterschiedlichen Ursprungs zu einem fragmentarischen Porträt der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa. Aufnahmen des Künstlers, Fotos aus Urlaubskatalogen, anonyme Schnappschüsse von Amateurfotografen sowie Nachrichtenbilder, die auf der Insel selbst, aber auch an anderen Orten entstanden sind, zeichnen die Spuren nach, die zwei konträre Gruppen von "Reisenden" auf der Insel hinterlassen: Touristen, die in den Sommermonaten das Urlaubsparadies Lampedusa aufsuchen sowie Flüchtlinge aus Nordafrika, die unter lebensbedrohlichen Bedingungen in den Wintermonaten auf der Insel landen, in der Hoffnung auf ein besseres Leben in Europa, oder auf dem Weg dorthin den Tod finden.
Die formal sehr heterogenen, einzeln oder in Gruppen hängenden Fotos fügen sich, ähnlich wie in Polonis früheren Arbeiten, zu einer losen Abfolge fragmentarischer visueller Andeutungen zusammen, anhand derer der Betrachter ihre Bedeutung, logische Zusammenhänge oder narrative Verknüpfungen herleiten muss. Der fast detektivische Blick, den diese Arbeit einfordert, lässt die Insel Lampedusa als
eine ambivalente, verdächtige Landschaft erscheinen. Zugleich trägt sie fiktionale Züge, die Bilder aus unserem kollektiven Imaginären wachrufen: Reise, Exil, den romantischen Abenteurer und den modernen Sklaven.

Sean Snyder, A Revisionist Model of Solidarity
Multimediale Installation, 2004-2005

Sean Snyder rekonstruiert in seiner Arbeit den Wiederaufbau der 1963 durch ein Erdbeben fast gänzlich zerstörten Stadt Skopje. Anhand von Archivaufnahmen der Stadt, der Bauarbeiten und der Planung durch das Architektenteam um den Japaner Kenzo Ande zeichnet Snyder den visionären (demiurgischen?) architektonischen Gestaltungswillen angesichts der Tabula rasa einer ausgelöschten Stadt, seinen Zusammenprall mit der jugoslawischen Realpolitik, aber auch die Entstehung einer internationalen, utopischen Gemeinschaft der Helfer nach.
Der modernistische Traum von der künstlerisch-architektonischen (Neu-) Erschaffung der Welt aus dem Modell, die Verklärung einer planbaren Zukunft und der utopische Glaube an die Machbarkeit eines besseren Gemeinwesens werden hier jäh mit einer prekären sozialen und politischen Wirklichkeit konfrontiert. An zentraler Stelle der Installation sieht man entsprechend die Projektion eines Seismographen, dessen Nadel mit unangenehmem Kratzen Messdaten in eine zackige Kurve übersetzt. Die Gleichsetzung von Messbarkeit, Transparenz und Kontrolle erweist sich hier einmal mehr als Illusion.

deueng
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