Shutdown-Programm #4

Hans D. Christ, Dialog mit Covid-19
ESSAY
22. März 2020

Man muss, so glaube ich, die Situationen, wie sie sich derzeit um den Erdball spannen, anders beschreiben als in Szenarien der Überwindung. Zunächst ist davon auszugehen, dass alle restriktiven Maßnahmen, die unsere Freiheit beschneiden, zyklisch erneut auftreten werden. Niemand glaubt ernsthaft, dass das Virus von heute auf morgen verschwunden sein wird. Das zyklische Auftreten der Restriktionen basiert schlicht auf dem Umstand, dass mit jeder Einschränkung die absolut richtig ist, ein erheblicher "Stamm" für Neuinfektionen bleibt. Eine Herdenimmunität wird nur erreicht, wenn ca. 70% der Gesamtbevölkerung eines Territoriums, das wir hier einmal Nation nennen, eine Infektion hatte. Die momentanen Restriktionen dienen insofern dem Ziel, die Letalität niedrig oder vielmehr beherrschbar zu halten.

Hans D. Christ, Collage, 2020

Wir werden es also über das kommende Jahr hinweg immer wieder mit Situationen zu tun haben, die das öffentliche Leben erheblich beschneiden – national wie international. Dies wird hinlänglich von Virolog*innen als ein Szenario beschrieben, bei dem die Ausbrüche des Virus in Wellen rhythmisiert (Restriktionen, Lockerungen, Neuinfektionen, Restriktionen …) und in der Folge immer größere Anteile der Gesellschaft immunisiert werden. D.h., es geht eben nicht um die Überwindung, sondern in nächster Zeit um eine Formation des Lebens mit SARS-CoV-2 und einer Normalisierung von staatlichen Eingriffen in das alltägliche Leben.

Dies heißt auch, dass es kein einfaches Zurück zu alten Gewohnheiten in näherer Zukunft geben wird. Wenn es also kein Szenarium der kurzfristigen Überwindung gibt, lautet die große Frage, wie wir das Virus – so paradox dies klingen mag – in ein demokratisches System einbinden, es sozusagen als ungebetenen Gast willkommen heißen wollen. Es würde bedeuten, Modelle der Fürsorge in Anerkennung ihrer globalen Zusammenhänge zum Kern des gesellschaftlichen Lebens zu machen.

Covid hätte dazu sicher einiges zu sagen. Das Virus könnte von der Leichtigkeit erzählen, mit der es vom Tier zum Menschen übersprang, als es auf erschöpfte, von Atemwegserkrankungen beschädigte Subjekte traf, die sich in der von Industriesmog geschwängerten Luft und in zum Konsum verdichteten Menschenmassen versammelten. Es wunderte sich über die fehlende Aufmerksamkeit, die man ihm schenkte, da hier offensichtlich der Fetisch "ökonomischer Wachstum" seine Expansion überdeckte. Der Smog dort, der nichts anderes ist als die gesundheitsschädliche Verdichtung des globalen Begehrens nach Gewinn und massenhaftem Konsum, war zugleich der sanfte Windzug, der es um die Welt verwirbelte. Niemals hätte es sich erträumt, soweit von seiner Wildtierprovinz in die große weite Welt zu reisen. Obwohl es inzwischen einen Namen erhalten hatte, fuhr es noch immer als blinder Passagier ungebremst um die Welt. Als mit der wachsenden Pandemie schließlich erkannt wurde, dass ein gesellschaftspolitscher Prioritätenwechsel unerlässlich ist, wurde es auch um Covid etwas einsamer. Es hatte dies erwartet und sich mit seinem entfernt verwandten Kollegen, HIV, ausgetauscht, der ihm glaubhaft versichern konnte, dass es weiße Flecken des pharmakologischen Komplex gibt und dort, wo die globale Gewinnsucht keinen Nährboden mehr vorfindet, ausreichend neue Wirte zur Verfügung stehen.

Hans D. Christ, Collage, 2020

In der Regel ist ein Virus nicht besonders gesprächig, sondern eher der ruhige Typ, eine Art Schläfer, der in den Destruktionspotenzialen neoliberaler Nekropolitiken sein weiches Bett findet. Und es hat Hoffnung, schließlich schickt sich die politische Klasse an, ihm im narzisstischen Versprechen auf Ewigkeit selbst immer ähnlicher zu werden. Wir wissen ja, dass Viren Großmeister der Mutation sind. Teile der globalen politischen Klasse lecken zurzeit schon totalitäres Blut, um sich im Gewand des Kriseneskapismus, der primär einer des ökonomischen Primats ist, sich von der Gängelei des "Wahlvolks" frei zumachen.

Zumindest ist klar, dass staatlicher Protektionismus auf den allgegenwärtigen Nationalismus trifft und sich beides zurzeit bestens miteinander arrangieren lässt. Dies ist eine Herausforderung, die sich weder monokausal durch medizinische Technik noch durch digitale Expansion in unser aller Privatsphäre – also technokratisch regeln lässt. Alle Entscheidungen in Bezug auf das öffentliche Leben sind politische Entscheidungen und nicht die eines oder mehrerer Virolog*innen. Darüber hinaus ist überdeutlich, dass es zurzeit so aussieht, dass die Gesellschaft die momentanen Maßnahmen weitestgehend anerkennt und somit politisch billigt. D.h., dass diese Krise zeigt, dass bis hierhin ein Konsens darüber herrscht, wie wir zurzeit regiert werden wollen. Dem steht deutlich die Agenda gegenüber, dass wir in Zukunft nicht mehr in dieser Form regiert werden wollen, da ein erheblicher Anteil der Krise an jenen falschen politischen Prioritäten liegt, die lange vor Corona durch das Phantasma der Privatisierung und Ökonomisierungen ehemals öffentlicher Infrastrukturen und staatlicher Fürsorgepflichten verursacht sind.

D.h., der Staat ist in der Vergangenheit wesentlichen Verpflichtungen, die im Kern seiner Beauftragung durch das Volk liegen, nicht nachgekommen. Es müssen hier nicht alle Aspekte, die von dem Recht auf Wohnraum bis zum Gesundheitswesen reichen, erneut aufgelistet werden. Wesentlicher ist es, jene Nekropolitiken zum Gradmesser zu machen, die derzeit in Lesbos den eigentlich durch internationales Recht geschützten Flüchtenden zum Verhängnis werden. Sie sind exemplarisch für den Zustand eines Systems, das einen großen Aufwand betreibt, um seine eigene Wirtschaft am Laufen zu halten, Waffen in die Türkei zu exportieren und das Rechtssubjekte nur in dem Maße anerkennt, wie sie ihrem Produktivitätsgrad zur Gewinnmaximierung nachkommen. Ich rede hier nicht nur von Deutschland im Inneren, sondern insbesondere im Äußeren.

Kehren wir noch einmal zu unserem ungebetenen Gast SARS-CoV-2 zurück. Unser Virus wundert sich noch über eine weitere Verleugnung eines Zusammenhangs, als er über die noch Rauch geschwängerte Luft Australiens hinwegflog, die ihn an den brennenden Amazonasdschungel oder die Permafrost-Schmelze in den Weiten der sibirischen Tundra erinnerte. Mit einer gewissen Inbrunst der Hoffnung betrachtet es jene Landschaftsleichen und sieht vor sich neue Heimstätten, neue Wirte, die ihm ein wohliges Gasthaus mit Gästen versprechen, die weltweit verbreitet sind und in einem Prospekt einer Virologin mit folgenden Worten angepriesen werden: „Das Eindringen von Viren in fremde Ökosysteme gilt als besonders folgenschwer, da diese Ökosysteme vollkommen naiv gegenüber dem Erreger sind und sich neue Viren möglicherweise ungehemmt ausbreiten können.“ (Sandra Junglen, 2007)

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