Shutdown Programm #13

Mehmet Daimagüler, Chana Dischereit, Neue Radikalität, alte Ressentiments im Ländle
ONLINE VORTRAG + GESPRÄCH
Mittwoch, 17. März 2021, 19 Uhr
Mit Mehmet Daimagüler, Chana Dischereit und Ülkü Süngün
Sprache: Deutsch, System: Zoom
Anmeldung / Linkvergabe unter
ruehl(at)wkv-stuttgart.de

im Rahmen der Veranstaltungsreihe
Über lokale und globale Strukturen von Antiziganismus
kuratiert und moderiert von Ülkü Süngün

Daniel Strauß, Vorstandsvorsitzender des Verband Deutscher Sinti und Roma, Baden-Württemberg (VDSR-BW) bei der Tatortbegehung des Brandanschlags auf einer Wiese bei Erbach-Dellmesingen, Foto: VDSR-BW

Die aktuelle Ausstellung Actually, the Dead Are Not Dead. Una forma de ser im Württembergischen Kunstverein thematisiert in Film und Bild die Kriminalisierung und Stigmatisierung von Sint*izze und Rom*nja und zeigt die Kontinuität dieser Verhältnisse auf. Doch wie sieht es mit der gegenwärtigen Lebensrealität von Sint*izze und Rom*nja konrekt in Baden-Württemberg aus?

Erst seit 2017 werden antiziganistisch motivierte Straftaten erfasst. [1] Ihre Zahl ist in Statistiken immer noch relativ gering, steigt jedoch an. Dies gründet auch darin, dass Rassimus gegenüber Sint*izze und Rom*nja oftmals nicht erkannt oder zur Anzeige gebracht wird, da er zum Alltag der Betroffenen gehört und deren Vertrauen in Behörden gering ist.

Der rassistische Brandanschlag auf Rom*nja auf einer Wiese bei Erbach-Dellmesingen in Baden-Württemberg im Mai 2019 ist einer der Fälle, die vor Gericht kamen, und endete im September 2020 mit Schuldsprüchen der fünf Personen nach Jugendstrafgericht. Mehmet Daimagüler ist Fachanwalt für Strafrecht und war Vertreter der Nebenklage. Chana Dischereit hat den Prozess seitens des VDSR-BW (Verband deutscher Sinti und Roma, Landesverband Baden-Württemberg) begleitet. Gemeinsam werden Daimagüler und Dischereit den Fall und seine juristische als auch zivilgesellschaftliche Aufarbeitung vor dem Hintergrund mittlerweile weiterer rassistischer Übergriffe aus Baden-Württemberg im Online Gespräch mit Ülkü Süngün reflektieren.

Die Aufarbeitung von institutionellem und behördlichem Rassismus gegenüber Sint*izze und Rom*nja, ist ein sehr langsamer Prozess und nicht selten Resultat erbitterter Bürgerrechtskämpfe von Betroffenen und Verbänden, die bis in die Gegenwart hineinreichen: Als 2007 auf der Heilbronner Theresienwiese bei einem (neonazistischen) Angriff die Polizistin Michèle Kiesewetter ermordet wurde und der Polizist Martin A. schwerst verletzt überlebte, führte das zu jahrelangen antiziganistischen Ermittlungen der Polizei, die massenhafte Erbgutanalysen mit sich brachten und als "Wattestäbchen-Affäre" traurige Bekanntheit erlangten. Dies hat weiter zur Stigmatisierung und Diskriminierung der Sint*izze und Rom*nja durch polizeiliche Erfassungen beigetragen, einer Praxis die bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht. Der Heilbronner Mord wird mittlerweile der rechtsradikalen terroristischen Vereinigung des NSU zugerechnet.

[1] Seit 3 Jahren wird Antiziganismus als eigenständige Kategorie in der Statistik politisch motivierte Kriminalität (PMK) erfasst (Fallzahlen: 2017: 41; 2018: 63; 2019: 78) und die Fallzahlen zeigen eine stete Zunahme. Siehe: hier)

Dr. Mehmet Gürcan Daimagüler
Dr. Mehmet Gürcan Daimagüler ist ein deutscher Rechtsanwalt, Hochschuldozent und Buchautor. Ab 1997 war er Bundesvorstandsmitglied der FDP, trat aber 2007 aus der Partei aus. Ab 2012 war er Nebenklagevertreter im NSU-Prozess. Mit sieben Mandaten vertrat er die meisten Nebenkläger in dem Mammutprozess. Seither vertritt er regelmäßig Opfer von Menschenrechtsverletzungen und rassistischer Gewalt. Er ist Kommentator im renommierten Münchner Kommentar zur Strafprozessordnung. Im Herbst 2021 erscheint sein nächstes Buch: Das rechte Recht. In diesem Buch geht es um das Versagen der Justiz im Kampf gegen rechtsextreme Umtriebe. Weitere Publikationen: Kein schönes Land in dieser Zeit, 2011. Der Verletzte im Strafverfahren, 2016. Empörung reicht nicht!, 2017 und Mangelhaft - Über die Zustände in deutschen Gefängnissen im Jahr 2020.

Chana Dischereit
Chana Dischereit, M.A., studierte an den Universitäten in Heidelberg und FU Berlin und erwarb ihren Abschluss in Zukunftsforschung. Sie ist Referentin beim Verband Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Baden-Württemberg (VDSR-BW) für die Bereiche Bildung, Presse und Wissenschaft. Der VDSR-BW vertritt die Interessen der Familien, die in Erbach-Dellmensingen verjagt wurden. Chana Dischereit hat den Prozess am Landgericht Ulm auch wissenschaftlich begleitet und hierzu in der Leipziger Autoritarismus Studie 2020, Autoritäre Dynamiken. Neue Radikalität–alte Ressentiments, den Beitrag Antiziganismus im Ländle. Ein Bericht aus dem laufenden Prozess am Landgericht Ulm veröffentlicht. Weitere Veröffentlichung: Romno Chabpen. Ein Blick in die Küche der Sinti und Roma Europas, 2020.

Zur Veranstaltungsreihe
Das Online-Gespräch mit Mehmet Daimagüler ist der letzte Teil der vierteiligen von Ülkü Süngün kuratierten Veranstaltungsreihe Über lokale und globale Strukturen von Antiziganismus, die Fragen der aktuellen – leider derzeit geschlossenen – WKV-Ausstellung Actually, the Dead Are Not Dead. Una forma de ser vertieft und lokal kontextualisiert. Dabei geht es um eine Auseinandersetzung mit der Emanzipation der Rom*nja und Sinti*zze im Angesicht der gegenwärtigen Formen und Praktiken ihrer Diskriminierung.

In der aktuellen WKV-Ausstellung
Actually, the Dead Are Not Dead. Una forma de ser, kuratiert von María García und Pedro G. Romero, werden künstlerisch-politische Artikulationen insbesondere der in Spanien lebenden Sinti*zze und Rom*nja, neben Werken über ihre widerständigen Praktiken und ihre Emanzipation, vielfältig thematisiert. Zentral hierbei ist das Fest, der Flamenco und die Kris – eine politische Form der Versammlung. Ausgehend und inspiriert von den künstlerischen Arbeiten der Ausstellung möchte ich mit der vierteiligen Programmreihe Über lokale und globale Strukturen von Antiziganismus, einige Fragestellungen der Ausstellung bezüglich des Wohnens, der Kriminalisierung, sowie der Verfolgung und Vernichtung thematisieren. Dabei sollen vor allem widerständige Praktiken innerhalb der Bürger*innenrechtsarbeit aufgegriffen und diese in einen Zusammenhang mit lokalen Ereignissen gebracht werden.

In Deutschland werden Ressentiments und Vorurteile gegenüber Sinti*zze und Rom*nja oft in die NS-Zeit projiziert und somit externalisiert, obwohl der Antiziganismus eine lange Vorgeschichte hat und auch nach Kriegsende wegen mangelnder Aufarbeitung ungebrochen weitergewirkt hat. Selbst heute findet er sich in konkurrierenden Erinnerungspolitiken zu den Verfolgten und Ermordeten des NS-Regimes wieder. In Formen von andauernder Kriminalisierung und extensiver polizeilicher Erfassung ist er ebenso auszumachen wie in Verbindung mit Migration und Flucht vor allem aus dem Balkan. – Ülkü Süngün

Alle Veranstaltungen der Reihe Über lokale und globale Strukturen von Antiziganismus im Überblick

Radu Ciorniciuc, Filmemacher
Acasa, My Home
STREAMING
7.–10. Dezember 2020
ONLINE VORTRAG + GESPRÄCH
Montag, 7. Dezember 2020, 19 Uhr
Mit Radu Ciorniciuc, Lina Vdovil, Ümit Uludag, Ülkü Süngün
Sprache: Englisch

Verena Lehman, Mitbegründerin der Initiative Sinti-Roma-Pride
#dasdenkmalbleibt
ONLINE VORTRAG + GESPRÄCH
Freitag, 29. Januar 2021, 19 Uhr
Mit Verena Lehmann und Ülkü Süngün
Sprache: Deutsch

Frank Reuter, Forschungsstelle Antiziganismus, Heidelberg
Der selektive Blick
ONLINE VORTRAG + GESPRÄCH
Mittwoch, 10. Februar 2021, 19 Uhr
Mit Frank Reuter, Robert Gabris und Ülkü Süngün
Sprache: Deutsch

Mehmet Daimagüler, Rechtsanwalt (u.a. NSU Opferanwalt), Chana Dischereit (Landesverband Deutscher Sinti und Roma Baden-Württemberg)
Neue Radikalität, alte Ressentiments im Ländle
ONLINE VORTRAG + GESPRÄCH
Mittwoch, 17. März 2021, 19 Uhr
Mit Mehmet Daimagüler, Chana Dischereit und Ülkü Süngün
Sprache: Deutsch

Hinweis
Die Veranstaltenden behalten sich vor, von ihrem Hausrecht, auch im digitalen Raum, Gebrauch zu machen und Personen, die extrem rechten Parteien oder Organisationen angehören, der rechtsextremen Szene zuzuordnen sind und/oder bereits in der Vergangenheit durch rassistische, nationalistische, antisemitische oder sonstige menschenverachtende Äußerungen in Erscheinung getreten sind, den Zutritt zur Teilnahme des Online Gesprächs zu verwehren oder von diesem auszuschließen.

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